Stille. Ein heiliges Innehalten

Hanspeter Wolfsberger – Ich will das hohe Gut der „Sache Stille“ in Erinnerung rufen. Etwas von den Schätzen darin, von den Perlen. Denn „Stille bedeutet ja nicht nur Abwesenheit des Redens; sie ist selber etwas. Sie ist eine innere Nähe, eine Tiefe und Fülle…. ein ruhiges Strömen des verborgenen Lebens. Was sie vor Gott ist, vernehmen wir in den Worten aus dem Buch der Weisheit: ‚Als alle Dinge in der Mitte des Schweigens standen und die Nacht die Mitte ihres Laufes erreicht hatte, da stieg vom göttlichen Thron herab, o Herr, dein allmächtiges Wort.‘“ (Sap. Sal. 18,14 f. / Romano Guardini, Wille und Wahrheit, 1991, S. 32).

Für einen beanspruchten Menschen ist es an sich schon eine Wohltat, wenn es um ihn endlich einmal still wird. Das Rausgehen aus dem fast allgegenwärtigen Schalldruck des modernen Lebens tut, wo man es haben kann und solange man es aushalten kann, einfach gut. Es steckt, glaube ich, in jedem Menschen ein Grundbedürfnis nach Stille. Darum kann es so anrührend sein, auf einer Brücke zu stehen und dem plätschernden Wasser darunter zuzuschauen; oder, wie einst als Kinder, Regentropfen zuzuschauen, wie sie an einer Fensterscheibe herunterlaufen; oder einer Flamme zuzuhören, die im Kamin knistert; oder – seltener schon – dem Wind zu lauschen, der das Gras bewegt, Wellen zuzuhorchen, die den Strand hinauflaufen oder in einer stillen Kirche sitzen und das Geheimnis spüren, das in ihr ist… Bei solchen Gelegenheiten, wenn sie denn kommen, spüren wir: Es ist etwas Gutes um die Stille, man müsste mehr davon bekommen. Eine Sehnsucht danach wacht auf, ein Grundbedürfnis meldet sich: „Wenn es nur mal ganz still wär.“ (Rilke)

Stille und Hören

Die christliche Tradition weiß aber noch mehr: In der Stille, sagen die Mönche, ist der Atem der Ewigkeit. Stille und Schweigen sind wie Türen hinein in einen Raum, in dem die Begegnung mit Gott stattfinden kann. Im Schweigen, in der Ausrichtung auf Gottes Welt, löst sich der Mensch aus seiner Verkrampfung in das rein Diesseitige. Schweigen und Einsamkeit sind Wege, über die äußere zu einer inneren Ruhe und zu Gelassenheit zu finden, Sorgen loszulassen, wie Jesus es empfohlen hat, ungute Gedanken abzulegen, nicht länger zurückzuschauen mit vielen selbstquälerischen Grübeleien und Gedanken. „Selbst ein ganz kurzer Augenblick der Stille ist wie eine Sabbatruhe, ein heiliges Innehalten, eine Bresche in der Sorgenmauer“ (Brüder von Taizé). Wenn wir Stille halten, richten wir unsere Erwartung auf Gott: Gut ist es, schweigend zu hoffen auf die Hilfe Jahwes (Klgl 3,26).

Ps 65,2 kann aus dem Hebräischen so übersetzt werden: Stille ist für dich Lobpreis, o Gott. D.h. schon durch Stillsein in seiner Gegenwart wird er gelobt. Ruhe, Stille und Schweigen können einen Menschen langsamer machen, können ihn aus seiner chronisch gewordenen Hektik lösen. Und was noch mehr ist: Stille kann Hören ermöglichen. Und von diesem Hören hängt viel ab.

Davon wusste man schon im alten Israel. Dessen innerstes Bekenntnis, gesprochen auch in den dunkelsten Stunden der Shoah, beginnt mit: „Schema“ – „Höre!“ Darin ist das Wissen enthalten, dass Hören nicht nur zentral ist für irdische Kommunikation, sondern auch zwischen Mensch und Gott (vgl. Jes 50,4f.). Darum galt es als Top-Kennzeichen von Weisheit, wenn Salomo das hörende Herz (1 Kön 3,9) wichtiger findet als langes Leben, Reichtum, Sieg oder Ehre. Ein hörendes Herz haben ist unvergleichlich gut. Es nicht zu haben, ist keine Kleinigkeit. Spr 28,9 sagt: Wer fernhält sein Ohr vom Hören der Weisung, dessen Gebet sogar ist ein Gräuel. Das besagt: Leben entsteht am Hören auf Gott: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Munde Jahwes ergeht, davon lebt der Mensch (Dtn 8,3). Auch Jesus suchte das Hören auf Gott. Er konnte sagen: Ich kann nichts von mir selbst tun; so wie ich höre, so urteile ich (Joh 5,30). Man bedenke diese Aussage aus seinem Mund: Er, dieser Menschenkenner, er mit seiner überweltlichen Erfahrung, er lebte davon: Nur, was der Vater ihm sagt, das gilt. Joh 8, 26ff.: Was ich vom Vater gehört habe, das rede ich zu der Welt. Was ich rede, rede ich so, wie es mir der Vater gesagt hat.

Ob es dieses Hören auf Gott war, was ihn so frei und souverän machte? Er wirkte unabhängig von menschlichen Stimmen, weil sein Ohr eingestimmt war auf Gott. Er konnte bestehen vor Menschen, weil er vor Gott stand. Er war unbestechlich, er konnte weder durch Drohungen noch durch Schmeicheleien manipuliert werden. Wieso? Dies alles ging nicht ohne jene Zeiten der Stille, die er so oft suchte. Das Alleinsein mit Gott am See, auf dem Berg, in der Wüste, auf langen Fußwegen schärfte seine Wahrnehmung, half ihm, aus den vielen Stimmen die Eine zu erkennen, um die es ihm ging. Er wollte Instrument sein für seinen Gott, nicht CD-Player, er wollte in seinen Lebenstagen erklingen lassen, was Gott ihm an innerer Musikalität zugemessen hatte, er wollte Klang werden lassen, was die himmlische Berührung ihm geschenkt hat, den Grundton und die Obertöne (vgl. Martin Schleske, Der Klang). Wer Stille in diesem Sinne sucht und empfiehlt, will Großes.

Was habe ich heute für mein Innerstes getan? Natürlich ist es gut, zur Einstimmung ins Thema irgendwo einen guten Artikel zu lesen. Oder einen Vortrag zu hören. Nichts dagegen. Aber die mit Abstand beste Empfehlung ist diese: Nimm dir eine Stille. Geh, am besten allein, für ein paar Tage in ein Haus, das Stille atmet. Zu Menschen, die mit Stille ihr Leben verbunden haben. Geh an einen Ort, wo du für diese Tage gut versorgt bist, eine gute Unterkunft bekommst, wenn möglich in einer schönen Landschaft unterwegs sein kannst. Sehr hilfreich ist es auch, wenn dort Menschen sind, die einem bei eventuell aufbrechenden Lebensfragen geistliche Begleiter sein können. Gut essen, gut schlafen, in der Nähe von Engeln sein, das hat Elia schon geholfen (1 Kön 19).

An einem solchen Platz, vor allem wenn er vom Gebet bestimmt ist, kann ein Mensch wieder in Berührung mit dem Heiligen kommen. Die stärksten Wirkungen gehen dabei – nach unseren Erfahrungen – von jenen Zeiten aus, in denen ein Mensch sich, als wäre es zum ersten Mal, dem dreieinigen Gott hinhält: „Hier bin ich mit meiner Lage. Ich laufe jetzt nicht mehr weg. Ich halte mich dir hin, Christus. Sprich nur ein Wort!“

Und dann seiner Zusage vertrauen: Der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe (Joh 14,26). Er macht lebendig, was er uns in seinem Wort schon einmal gesagt hat, er aktiviert das (Jer 3,31), er teilt sich dem Schweigenden, Hörenden und Suchenden neu mit. Er lässt es auch und gerade hier – dem Aufrichtigen gelingen.

Sicher, solche sogenannten Einkehr­tage garantieren keinen „neuen Menschen“. Manchmal ist eine Lebensgeschichte zu voll, zu verprägt, die Unruhe und das Fiebernde sind notorisch geworden. Dann findet ein solcher Mensch in der Stille zunächst nur sich selbst und damit all sein inneres Chaos. Aber das kann sich mit entsprechender Hilfe ändern. Und vor allem Gott kann das Verwirrte gnädig verwandeln, wenn ein Mensch sich ihm hinhält.

Ein Mensch nahm guten Glaubens an, er hab sein Äußerstes getan. Doch er vergaß – und spürt es nun – auch noch sein Innerstes zu tun. (nach Eugen Roth)

Das Äußerste tun im Leben, das kennen wir. Wir haben mit äußerster Kraft unser Tagwerk getan, sind mit äußerster Aufmerksamkeit durch den Verkehr gefahren, haben mit äußerster Sorgfalt auf unser Äußeres oder unseren Ruf geachtet – es sei erlaubt, bevor es Abend wird, zu fragen: „Was habe ich heute für mein Innerstes getan?“

Das „Innerste tun“, ich weiß, das hört sich seltsam an, absurd. Mit etwas Absurdem hat es auch zu tun. „Absurd“ kommt von dem lat. Wort „surdus“ und meint „taub“. Und so kann ein Menschenleben werden, es wird taub für gewisse Dinge. Taub für die eigene Identität, für den Umgang mit den inneren Kräften einer Seele, taub für den Umgang mit dem eigenen Herzen, mit dem Ungeliebten und Ungelebten, und taub für Gott.

Und mit zunehmender Zeit vergrößert sich die Taubheit, jemand wird tatsächlich ab-surd, völlig unempfindlich für die Signale des Körpers, der Beziehungen oder für den feinen Klang der Stimme Gottes. Ich wünsche jenen Jahren, die Gott uns noch leben lässt, dass uns das „Hören auf die Stille“ (Henri Nouwen) zugänglich wird und es uns im Weitergehen leitet zu dem hin, der „alles in allem“ ist.

Hanspeter Wolfsberger lebt, wovon er schreibt, in Betberg, einem wunder­schönen Einkehrhaus im Markgräfler­land. Der Rhythmus der täglichen Tagzeitgebete hat ihm sehr geholfen, langsamer zu werden und offener – nach oben und in die Weite.

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