Die Kunst des Weglassens
Im Volksmund ist Müßiggang aller Laster Anfang. Sören Kierkegaard setzt dagegen: „Müßiggang als solcher ist keineswegs eine Wurzel des Übels, im Gegenteil, er ist ein wahrhaft göttliches Leben, wenn man sich nur nicht langweilt.“ Das Wort allein verweist auf „müßig gehen“, mit Muße, frei von Pflichten. Es verlockt mich, gerade weil es bei weitem nicht meinen Alltag darstellt. Der ist gefüllt von Absichten und Zielen, hinter denen sich so manche Pflicht verbirgt. Und dennoch will ich mir den Müßiggang nicht rauben lassen!
Mein Zuviel wahrnehmen
„Es ist alles so viel, zu viel“ – wer kennt diesen Satz nicht? Nicht wenige Menschen verspüren einen diffusen Druck. Alles wird immer mehr. Es ist nicht mehr zu schaffen. Oft bleibt nur noch ein resigniertes Klagen. Verständlich, aber ich weiß von mir, dass es sich zu leicht jammert. Das darf ab und an sein, als Ventil. In meinem Jammern stelle ich immer wieder fest: Das Zuviel habe ich mir in der Regel selbst eingebrockt! Die Termine in meinem Kalender, die getroffenen Zusagen, das habe ich meistens mir selbst zu verdanken. Im Jammern schiebe ich die Schuld gerne auf die Anderen, die Erwartungen und was auch immer und merke erst dann, dass ich selbst in der Verantwortung bin. Gleich nach dem lieben Gott halte ich die Verantwortung für mein Ergehen selbst in den Händen!
Ich versuche bei mir zu bleiben und frage lieber, warum ich immer wieder in solchen Situationen lande? Was treibt mich eigentlich? Meine ich, dass es ohne mich nicht geht? Will ich die anderen nicht enttäuschen? Reinhard Deichgräber gibt zu bedenken: „Viel mitmenschliches Engagement, das sich selbstlos-edelmütig gibt, ist angemaßte Verantwortung, geboren aus einem massiven Unglauben, der nicht mehr mit der Möglichkeit einer göttlichen Weltregierung rechnet.“1 Gehöre ich auch zu den Königen des Aus-Atmens … des Immer-mehr-Gebens – und zu den Bettlern des Ein-Atmens … des Empfangens? Mein „Zuviel“ ist vor allem ein „Zuwenig“! Nicht immer kann ich am Zuviel etwas ändern, aber ich muss es wahrnehmen, wahr sein lassen. Und kann dann über mein Zuwenig nachdenken.
Mein „Zuwenig“ stärken
Wenn ich unter dem Zuviel stöhne, hilft es mir, dem nachzuspüren, was zu wenig ist. Wenn bei einer Waage eine Seite schwer nach unten zieht, gibt es zwei Möglichkeiten. Ich kann die schwere Seite leichter machen, weniger Termine etc. Wir alle wissen, das klappt nur sehr bedingt! Oder ich kann der leichten Seite mehr Gewicht geben, das Fehlende stärken. Dabei ist das Zuwenig für mich weit mehr als zu wenig freie Zeit, Entspannung, Urlaub, etc. Das wäre nett, ist aber nicht die Lösung. Ich nenne drei andere Momente.
Versöhnt leben
Noch einmal Reinhard Deichgräber: „Versöhnt sein mit dem, was ist, weil es nicht ohne Gottes Gegenwart ist. Versöhnt sein mit allem, was lebt (das eigene Sein eingeschlossen), das ist das Leben, zu dem wir geschaffen sind und in dem sich unsere Bestimmung erfüllt.“ Und er schließt an: „Wir glauben als Christen doch nicht an einen Gott, der sozusagen in unser Ich-Ideal verliebt wäre, sondern an den himmlischen Vater, der uns bejaht, so wie wir jetzt, in diesem Augenblick, sind.“2 Wem vieles oder gar alles zu viel ist, der hadert rasch mit den Umständen und Menschen. Und gerne auch mal mit sich selbst. Versöhnt leben heißt aber nicht, alles schön zu reden. Versöhnt leben heißt, es zu bejahen – es darf so sein – ich darf so sein – so wie es jetzt gerade ist. Es muss nicht ideal sein. Und ich muss es auch nicht. Ich versöhne mich mit dem, was ist – nicht mehr und nicht weniger. Es muss deshalb nicht so bleiben, aber zunächst einmal darf
es so sein.
Von der Zeit, die mir gehört
Wenn ich Zeit für alle und alles habe – dann sollte ich auch mir selbst angemessen Zeit einräumen. Auch unser Herr Jesus hat sich regelmäßig aus dem Trubel genommen und sich Zeit gegönnt, die ihm gehört hat (z.B. Mk 1,35ff.). Oder wie es Bernhard von Clairvaux in einem Brief an seinen damaligen Papst formulierte: „Wenn also alle Menschen ein Recht auf dich haben, dann sei auch du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig du selbst nichts von dir haben?“ Mein Zuwenig stärken meint also ein schönes Maß an Langeweile und Gelassenheit, bei etwas „lang verweilen“ können. Und auch etwas „gehen lassen“ können, sich in der Kunst des Weglassens üben.
Seit langem versuche ich täglich eine Stunde Zeit zu haben, die nur mir gehört. Das sind zum einen die schöpferischen und sinnstiftenden Momente. Ich lese, denke, schreibe ohne Auftrag und Ziel. Ein anderer erlebt das, wenn er dafür in seine Werkstatt geht. Die Orte mögen verschieden sein, der Wunsch ist derselbe. Nachdenklich hat mich ein kürzlich gelesener Satz gemacht: „Ich habe nicht selten die Erfahrung gemacht, dass nicht diejenigen, die an beiden Enden für eine Sache brennen, am Burn-out-Syndrom leiden, sondern die, die sich für ihren Job nie wirklich entflammen konnten. Wo einem die schöpferische Tätigkeit nicht zugebilligt wird oder man sie sich nicht zutraut, ist die Erschöpfung eben ziemlich groß.“3 Die schöpferische Zeit, die mir gehört, macht mein Leben sinnvoll und befriedigend.
Mein Maß finden
Der badische Pfarrer Gerhard Engelsberger schreibt einmal: „Ein Mensch kann nicht mehr geben, als ihm gegeben ist. Oder was die anderen ihm gelassen haben. Das ist sein Maß. Darunter ist Langeweile. Darüber ist Herzinfarkt. Darunter ist Unzufriedenheit. Über dem Maß ist purer Stress. Darunter ist Jammern. Darüber ist Ausgebeutet-Werden. Menschen, die ihr Maß nicht kennen, sind sich selbst und anderen eine Last. (…) Warum hänge ich die Messlatte oft zu hoch, wenn Gott selbst doch die Niedrigkeit zu seinem Ort und zu seinem Heil erklärt? (…) Menschen, die ihr Maß gefunden haben, sind ein Segen für die Umgebung.“4 Kenne ich mein Maß? Und: was ist in meiner jetzigen Lebensphase mein Maß? Die Frage hat zwei Seiten, es gibt ein Darunter und ein Darüber. Man ist an die griechische Sage des Prokrustes erinnert. Er war ein Wegelagerer, der den vorbeiziehenden Menschen sein Bett anbot. Wenn sie aber zu groß waren, hackte er ihnen die überstehenden Gliedmaßen ab. Und wenn sie zu klein waren, streckte er sie. Jeweils zwang er seine Mitmenschen in das nur ihm passende Bett. Und alle sind unter seiner Hand gestorben.
Die Kunst des geistlichen Müßiggangs
In Hermann Hesses „Reiselied“ finde ich die Sätze „Tiefere Wonne weiß ich nicht auf Erden, als im Weiten unterwegs zu sein. (…) Unsrer Erde mitzufühlen tu ich alle Sinne festlich auf.“ Es ist die Kunst des absichtslosen Seins, auch inmitten eines vollen und fordernden Alltags. Es gilt: „Wie armselig sind unsere Wege, wenn sie nur noch der Erreichung eines bestimmten Zieles dienen!“5 Die Sinne festlich auftun bedeutet für mich vor allem: mich immer wieder darauf einstellen, dass Gott mich heute überraschen möchte. Dabei hilft mir ein liturgischer Lebensstil.
Ich versuche, den Tag mit dem Abend zu beginnen – erst kommt die Ruhe, dann nachgeordnet, die Arbeit. Zum Morgen – zwischen Ruhe und Arbeit – gehört die Stille vor Gott, die meinen Alltag tragen soll. Ich übe mich darin, den Tag durch drei Gebetszeiten – am Morgen, am Mittag, am Abend – zu gliedern. Es sind die Momente des inneren wie äußeren Luftholens. Dem dient auch ausgesprochen der Sonntag, wie die wöchentliche Feier des Heiligen Abendmahles, das mir hilft, versöhnt zu leben. Aber auch die Feste des Kirchenjahres und des Lebenslaufes lehren uns, das Leben zu feiern, weil es von Gott geschenktes und von Gott erfülltes Leben ist.
Das Leben angesichts des Zuviel und des Zuwenig braucht die Balance. Ich gehe dem Ende meiner beruflichen Tätigkeit entgegen. In den vielen geschäftigen Jahren habe ich gelernt, dass gerade im Absichtsfreien die Quelle größter Produktivität liegt, dass in der Muße, zuvorderst in der geistlichen Muße, dem liturgischen Lebensstil, die Kraft ruht, die meinen vollen Einsatz ermöglicht, ohne atemlos zu werden.
Wenn ich diesen Text geschrieben habe, mache ich mich auf den Weg in ein Haus der Besinnung. Inmitten von Weinbergen gönne ich mir meine jährliche Woche auf dem Betberg6. Ich habe mir einen Hosentaschenzettel gemacht mit Worten aus dem Prediger Salomo: „Alles hat seine Zeit …“. Das ist die Frage, die mich begleitet: Was ist bei mir gerade an der Zeit? Ich will die Worte meditieren, immer wieder laut und langsam lesen und sie wirken lassen. Das wäre auch eine Anregung, um die Kunst des Müßiggangs einzuüben: Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt (…). Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben (Pred 3,10).
Anmerkungen:
1 Reinhard Deichgräber; Von der Zeit, die mir gehört; S. 21
2 Deichgräber a.a.O. S. 58 und 60
3 Andreas Öhler; Wohin geht man, wenn man in Rente geht? in: Christ & Welt Nr. 29 vom 4. Juli 2024
4 Gerhard Engelsberger; Kleines Spirituale für Menschen in geistlichen Berufen; Gütersloh 2004; S. 30ff
5 Deichgräber a.a.O. S. 118
6 siehe: www.betberg.de
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