Aquaplaning

Hoffen in den Schleuderfällen des Lebens

Mirjam ist seit einigen Tagen schon nicht mehr im Kindergarten. Zu ihrem schwachen Zustand kamen Gliederschmerzen und Blässe. Heute Morgen Blutbild beim Kinderarzt. Alarmierendes Ergebnis, deshalb am Nachmittag nochmals hin. Von dort direkt nach Darmstadt in die Kinderklinik. Umfangreiche Untersuchungen erhärten den Verdacht: Leukämie. Trotz des niederschlagenden Ergebnisses besteht – warum auch immer – Hoffnung und verhaltener Optimismus.“ Mit diesen Worten habe ich am 18. November 1997 ein neues Tagebuch begonnen. Nicht weil das bisherige schon voll gewesen wäre. Sondern weil an diesem Tag etwas völlig Neues für uns als Familie begann.

Aus heiterem Himmel

Wie eine Autofahrt bei hohem Tempo und plötzlichem Aquaplaning. Wir standen mit drei Kindern zwischen fünf und neun Jahren mitten im Leben. Unser Ältester litt unter epileptischen Anfällen, später wurde ein Asperger-Syndrom diagnostiziert. Wir waren im pastoralen Dienst – ich hauptamtlich, Heidi ehrenamtlich – sehr engagiert. Unser Motor lief auf Hochtouren. Und dann Aquaplaning, Schleudern ohne jede Voranmeldung. Aus heiterem Himmel. Es gibt Momente im Leben, da trifft uns Menschen etwas mit voller Wucht. Es kommt unerwartet, man kann sich nicht wirklich vorbereiten. Man wird geschleudert, ist nicht mehr Herr der Lage.
In solchen Momenten zeigt sich aber auch, was uns im Leben hält.

Vom Himmel gehalten

Unsere Mirjam landete zunächst in einer Klinik in Darmstadt. Der Arzt, der sie aufnahm, war derselbe, der auch unseren Ältesten betreute. Er erkannte meine Frau und war dann sichtlich betroffen, dass wir nun zwei Sorgenkinder hatten. Dass jemand, der so viele Patienten hat und bei dem wir vor Monaten das letzte Mal waren, sich erinnerte, war ein erster tröstlicher Moment in unserem Schrecken. Wir Menschen vermögen einander nicht zu heilen, aber wir vermögen einander zu stärken.

Am nächsten Tag ging es weiter in die pädiatrische Onkologie nach Frankfurt. Heidi schrieb später darüber: „Wir kamen ins Löwenzimmer. In der Kinder-Onkologie waren alle Zimmertüren mit fröhlichen Tier-Bildern geschmückt, vermutlich auch, damit die Kinder ihre Zimmer leichter finden. Mir wurde der kleine Löwe zur großen Hilfe. Ich weiß nicht mehr, wem die Geschichte zuerst eingefallen ist, Mirjam oder mir selbst. Es ist wie bei Daniel in der Löwengrube. Krebs ist eine große Bedrohung, aber der Gott, mit dem wir leben, der kann den Löwen den Mund verschließen. Er kann uns mutig machen, dass wir durch diese Zeit der Chemotherapie und Bestrahlungen kommen. Er ist da an unzähligen langweiligen Kliniktagen und in allem Hoffen und Bangen. Er ist mit uns im Löwenzimmer.“ Es folgte ein langes Arztgespräch. Leukämie wurde erklärt – was nun zu tun sei – und wie die Chancen stünden. Am Ende des Gespräches meinte der Arzt, dass wir erstaunlich ruhig und gefasst reagieren würden. Wir sprachen dann davon, dass wir uns in alledem als von Gott gehalten erleben würden. Ja – so erlebten wir uns. Natürlich aufgewühlt, auch völlig unsicher. Aber eben auch vom Himmel gehalten. Die Betroffenheit des Darmstädter Arztes und das Löwen-Zimmer in Frankfurt waren nur zwei von weit mehr Zeichen dafür.

Vor uns stand nun ein gutes halbes Jahr großer Herausforderungen. Heidi und Mirjam überwiegend in Frankfurt – die beiden älteren Kinder und ich zu Hause. Hier ist nicht der Raum, dies ausführlich zu schildern. Aber es waren Zeiten voller Spannungen und doch auch voller freundlicher Überraschungen. Wir haben erlebt, dass uns nicht nur etwas aus heiterem Himmel getroffen hat, sondern dass wir auch vom Himmel gehalten waren. Das hat uns Mut und Kraft gegeben die Schritte zu gehen, die zu gehen waren. Und die Spannung des offenen Ausgangs aushalten zu können.

Der Blick gen Himmel

Einer der für mich schwierigsten Momente in dieser Zeit fand an einem Sonntag statt. Ich hatte Mirjam und Heidi besucht und fuhr gerade vom Parkplatz der Klinik. Ich sah ein Elternpaar über die Straße gehen. Ich wusste, dass ihr Kind auch auf der Krebsstation und in einer äußerst bedrohlichen Lage war und mir fiel sofort auf, dass sie beide vollkommen schwarz gekleidet waren. „Sie haben verloren“, schoss es mir durch den Kopf. Weinend bin ich nach Hause gefahren – fast eine Stunde lang. Die Vorstellung, dass unsere Mirjam kalt und leblos in einer Holzkiste in der Erde verbuddelt würde, hatte mich zutiefst übermannt. An diesem Tag ist die Wirklichkeit der Endlichkeit des Lebens bei mir angekommen. Ich hatte Menschen in den Tod begleitet, Beerdigungen gehalten, Trost gespendet. Ich kannte mich aus mit dem Sterben … und doch … „Hoffnung“ als Sache, als Parole hilft da nicht sonderlich weiter. Aber Hoffen als Haltung schon. Mir wurde klar, dass Hoffen nicht bedeutet, ein ganz bestimmtes Ergebnis zu erwarten, sondern dass Hoffen eine Kraft zum Leben ist. Was immer kommt.

Vaclav Havel schrieb einmal: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Das wurde mir an diesem Sonntag klar. Seitdem heißt hoffen für mich: Auf dem Weg bleiben. Auch in der Krise. In der Gewissheit, dass dieser schwere Tag nie der letzte Tag ist. Paulus nennt Gott einmal den Gott der Hoffnung: Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes (Röm 15,13). Es ist die Hoffnung, dass Gott allem – wirklich allem – seinen Wert und Sinn gibt.

So haben wir immer wieder unseren Blick gen Himmel gerichtet. Und sind unseren Weg gegangen. Mal leichter, mal schwerer. Aber gegangen. Das ist nicht selbstverständlich. Es gab Familien, die ähnliches erlebten. Ich denke an eine Mutter, deren Tochter im selben Alter war. Auch sie kamen mit dem Schrecken davon. Die Tochter wurde gesund – doch der Schrecken blieb bei ihrer Mutter. In den Jahren, in denen wir einander noch bei Nachsorgeuntersuchungen begegneten, war die ungebrochene Angst der Mutter zu spüren, die nun die weitere Lebensentfaltung störte. Da war aus Aquaplaning ein Schleudertrauma ­geworden. Darum stellt sich die Frage: Wie kann ich die Hoffnung in mir nähren? So, dass ich in den Krisen auch davon zehren kann.

Sich dem Himmel nahe halten

Eine Autofahrt bei hohem Tempo und plötzlichem Aquaplaning – niemand ist davor sicher. Wohl dem, der ein funktionierendes ABS an Bord hat. Es sorgt dafür, dass man auf glatter Fahrbahn nicht die Kontrolle verliert. Mit drei Sätzen will ich mein ganz persönliches Antiblockiersystem beschreiben.

Das Leben annehmen.

Die US-Sängerin Sheryl Crow singt: „It’s not having what you want. It’s wanting what you’ve got.“ Es geht nicht darum zu haben, was man will. Es geht darum, dass man will, was man hat. Für mich ist es wesentlich JA zu sagen zu meinem Leben. Nicht das, das ich mir erträume. Sondern das Leben, das mir gerade möglich ist. Einwilligen in meine gerade vorfind­liche Wirklichkeit. Denn sie allein ist der Ort, an dem ich Gott finden kann.

Sich für das Hoffen entscheiden.

Die Wirklichkeit sehen wie sie ist. Aber ohne ihr zuzugestehen, dass sie für immer so bleiben muss. Nicht nur sehen, was ist, sondern auch sehen – zumindest ertasten – was werden kann. Jürgen Moltmann hat einst von der Theologie der Hoffnung gesprochen. Es ist zutiefst eine Theologie der Erwartung. Denn Gott ist ein Gott der Verheißung. Und er erfüllt seine Verheißungen. Das muss nicht immer zum erwünschten Ergebnis führen. Dennoch – und gerade da – liegt unser Leben in der Hand des Gottes, der es gut mit uns meint und macht. Dem mich immer wieder anzuvertrauen heißt, sich immer wieder für das Hoffen zu entscheiden.

Vertrauen in den Widersprüchen des Lebens. Es gibt kein Geheimrezept, um das Aquaplaning des Lebens sicher zu überstehen. Nicht alle Fragen lösen sich, eher selten erkenne ich das gute und sinnvolle Ende. Gerade da aber will ich mich dem Himmel nahe halten. Ein Gebet von Antje Sabine Naegeli hilft mir, mein Hoffen zu nähren: „Gott, der dich wahrnimmt, lasse zu deiner Erfahrung werden, was er dir zugesagt hat: Nämlich bei dir zu sein in Angst und Unsicherheit. Zu dir zu stehen in Ausweglosigkeit und Verlassenheit. Dich zu trösten, wenn du bekümmert bist. Deine Bedürftigkeit zu Herzen zu nehmen, was immer auf dir lastet. Er schenke dir, was du dir selbst nicht geben kannst: Wachsendes Vertrauen mitten in den Widersprüchen des Lebens.“

Unsere Tochter ist gesund geworden. Wir sind darüber glücklich. Viele sprachen damals von einem Wunder. Ich nicht. Ich wollte für mein Kind kein Wunder reklamieren, das es für andere Kinder nicht gab. Aber es ist ein Geschenk! Geschenkte Lebenszeit auf dem Weg zur Ewigkeit. Heute ist Mirjam verheiratet und hat selbst drei kleine Mädchen. Und sie feiert zweimal im Jahr Geburtstag, im Mai und im November! Und doch – es gab auch ein Wunder. Nämlich dies, dass wir diese bedrohliche Rutschpartie als Familie tragen konnten. Das ist unser Wunder – etwas, das ich nicht einfach machen – etwas, das ich mir nur schenken lassen und empfangen kann. Damit endet auch mein Leukämie-Tagebuch: Rund ein halbes Jahr Leukämie sind hier festgehalten. Ein Buch voller Schatten? Oder ein Weg zum Licht? Wer weiß es schon? Vielleicht sind die Seiten auch gefüllt – oder erzählen wenigstens etwas davon – von der Paradoxie des Lebens. Etwas wie Johanna Meyer (…) dichtet: „Voll Liebe hat stets er gewaltet und über uns freundlich gewacht, hat gnädig das Los uns gestaltet und hier schon uns glücklich gemacht. Und wenn seine Hand uns geschlagen, so hatte er dennoch uns lieb; und mussten wir Schweres ertragen, die Hoffnung der Herrlichkeit blieb. Ihm, der uns durch Jesus versöhnte, der uns aus dem Staube erhob und uns mit Barmherzigkeit krönte, nur ihm gebührt Ehre und Lob!“ Das ist für mich: Hoffen in den Schleuderfällen des Lebens!

Hoffen-Magazin 1 / 2024: Wir danken für das Alte und feiern das Neue!
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