Das hat Zukunft

Steffen Kern – Im Hebräischen heißt Hoffen „qiwah“. Das Wort taucht in verschiedenen Formen 82-mal in der hebräischen Bibel auf. Der Wortstamm ­bedeutet zugleich sehr bildhaft: „eine Messschnur spannen“ oder „ein Seil ­spannen“. Ein verwandter Begriff kann auch für „Spannkraft“ stehen.

Das macht deutlich, was Hoffen bedeutet: gespanntes Erwarten.

Hoffen heißt, mit gespannter Erwartung schnurgerade nach vorne ­ausgerichtet sein und zielorientiert leben.

Stell dir vor, du spannst eine Schnur, um ein Gartenbeet abzustecken. Ganz gerade. Sauber. An einer Stelle wird ein Pflock in die Erde geschlagen. Daran wird die Schnur befestigt und gespannt. An einem zweiten Pflock, der am Ende des Beetes eingeschlagen wird, bindest du sie fest. Entlang dieser Schnur gräbst du die Erde um, säest die Blumen ein oder stichst die Rasenkante ab. Schnurgerade.

Oder denke an eine Bergtour. Der Aufstieg durch eine Felswand. Am Abgrund entlang. Entlang des Pfades ist ein Seil gespannt. Daran hältst du dich. Daran gehst du entlang. Dieses Seil weist dir den Weg. Es gibt dir Halt und Sicherheit. Auch in schwindelnder Höhe. Auch wenn du das Ziel nicht siehst und dir der Berggipfel verborgen ist. Auch wenn du nicht einmal weißt, wie lange der Weg noch ist und wo er dich überall vorbeiführen wird – du gehst an diesem Seil entlang. Du schaust nicht in den Abgrund. Du siehst nicht zurück. Du bleibst nicht stehen. Du gehst am Seil entlang Schritt für Schritt nach vorne. Immer dem Ziel entgegen.

Genau das heißt Hoffen. Hoffnung ist die Spannkraft menschlicher Existenz. Die Dynamik des Lebens. Das steht nicht irgendwo, sondern es ist festgehalten in der ­Bibliothek, die wir Altes Testament nennen. Es ist die ­
Urkunde des Glaubens für Juden und Christen, also für den westlichen und den orientalischen Kulturkreis.

Das ist nicht nur relevant für glaubende ­Menschen. Für sie freilich in besonderer ­Weise, aber hier geht es um eine tiefe ­Einsicht in das, was Menschsein ­bedeutet. Wir sind wesenhaft Hoffende. Wir sind
dazu berufen, Hoffnungsmenschen zu sein. Hoffnung bedeutet also gespanntes Erwarten. Dieser Zentralbegriff wird flankiert und ergänzt von anderen Worten.

Zaghaft, beharrlich, spähend

Im Hebräischen ist auch von „zaghaftem Zaudern“ die Rede. Gemeint ist ein geduldiges stilles Zuwarten, manchmal auch ein Zögern. Das ist ebenfalls eine Seite der Hoffnung. Eine sehr menschliche. Die schwache Seite. Hoffen heißt eben nicht, immer euphorisch, siegessicher und voller Optimismus dem Himmel entgegenzutanzen. Der Zweifel gehört dazu, das Zögern und Zaudern. Das ist die sehr erdverbundene Seite der Hoffnung. Mensch sein heißt eben auch schwach sein. Aber das Zaudern ist eine Begleiterscheinung der Hoffnung, nicht ihr Wesen.

Ein dritter Begriff steht für ein „beharrliches Warten“. So wartet etwa der Kapitän der Arche Noah nach der Sintflut darauf, dass das Wasser endlich sinkt. Er sehnt sich danach, das Schiff zu verlassen. Endlich den Käfig zu öffnen, in dem er mit unzähligen Tierpaaren, die sich inzwischen schon kräftig vermehrt haben, feststeckt. Es wird eng. Es stinkt. Es fehlt an Platz, an Luft, an Freiheit. Er kann es kaum erwarten. Aber er harrt aus und sendet alle sieben Tage einen Vogel aus, um zu sehen, ob er Land findet. Dieses sehnsüchtige Ausharren – auch das ist eine Dimension der Hoffnung.

Schließlich gibt es noch einen vierten Begriff. Er heißt so viel wie „spähen“, „Ausschau ­halten“ nach dem, was kommt. Forschen. Sich kundig machen, fokussieren. Das tun die Späher, die ausgesandt werden, um
eine unbekannte Gegend zu erkunden. In einem Gebet (Psalm 145,15) heißt es: Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Dieser Vers wird gelegentlich als Tischgebet ver­wendet. Menschen hoffen auf Gott, dass er sie versorgt. Sie spähen aus nach dem, der die Zukunft eröffnet.

Klar ist: Diese Ausrichtung auf die Zukunft hat mit einer Null-Bock-Haltung nichts zu tun. Nichts mit „no future“. Nichts von „letzter ­Generation“. Der ganze Mensch hat einen Fokus: leben. überleben. Nach vorne leben. Der Homo sapiens ist ein Homo sperans: auf Zukunft hin angelegt. Das gibt Hoffnung. Auch für die Kirche.

Aus: Steffen Kern: Hoffnungsmensch, © 2023/2024 SCM Verlagsgruppe GmbH, D-71088 Holzgerlingen
(www.scm-brockhaus.de), S. 89-96.

Steffen Kern ist Pfarrer, Journalist, Autor und Präses des ­Evangelischen Gnadauer ­Gemeinschaftsverbandes. Seit 2013 gehört er zum ­Rednerteam von proChrist.

Hoffen-Magazin 1 / 2024: Wir danken für das Alte und feiern das Neue!
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