Eine Kerze im Fenster

Was Hoffnung mit gestohlenen Münzen und pragmatischen Entscheidungen zu tun hat

Rebekka Havemann  – Es war Sonntag, der 10. November 1985 in einem kleinen Städtchen jenseits des „Antifaschistischen Schutzwalls“. Wie jedes Jahr um diese Zeit stellte meine Mutter eine Kerze ins Fenster, die sie zehn Tage und Nächte am Brennen hielt. Das war das Zeichen der Hoffnung auf Frieden und Freiheit, zu dem sich nicht nur die Christen in der DDR verbündet hatten.

Zehn Tage lang trafen wir uns dick eingemummelt jeden Abend in der eiskalten und stockdunklen Kirche zum Beten. Alte Mütterchen, Teenager aus der Jungen Gemeinde, Werktätige und wir Kinder saßen um ein Kreuz herum, das aus Kerzen gebildet war. Jedes Jahr hielten wir mit großem Ernst diese „Friedensdekade“.

Vier Jahre später trugen wir die Kerzen hinaus auf die Straßen. Wieder waren sie Gebet und Hoffnung zugleich, dass sich etwas ändert in unserem Land und dass es bei uns nicht werden würde wie einige Monate zuvor in Peking, wo auf dem Platz des „Himmlischen Friedens“ Panzer über wehrlose Demonstranten rollten. Große Spannung lag in der Luft. Wir wussten ja noch nicht, dass man diese Zeit später „Friedliche Revolution“ und „Wende“ nennen würde.

Es ist gut ausgegangen damals, Frieden und Freiheit haben gewonnen. Seitdem zünde ich eine Kerze an, wenn ich von großem Unheil in der Welt oder im Leben von geliebten Menschen höre. Als Zeichen der Hoffnung, dass es gut wird.

Eigentlich sollte jemand, der das Wunder der Wende miterlebt hat, ein Experte in Sachen Hoffnung sein, oder? Aber ganz ehrlich:
Nicht erst seit dem zweiten Jahrestag des Beginns des Ukrainekrieges drohen mir immer mal wieder die Kerzen auszugehen.

Mit gestohlener Münze zahlen

Vor einigen Jahren wagte ich einen mutigen und hoffnungsvollen Aufbruch zurück in meine alte Heimat. Im „Haus der Hoffnung“ in Greifswald zu leben und zu arbeiten war seit Jahren mein Traum gewesen und wurde zu meiner Berufung. So jedenfalls hatte ich es von Gott gehört und meine OJC-Gemeinschaft hatte das bestätigt.

Was ich mit Feuereifer und großer Ernsthaftigkeit begann, endete für mich nur vier Jahre später in einer Katastrophe. Über die Gründe dieses Scheiterns will ich hier nicht reden, es geht mir eher um die Zeit danach.

Nachdem man mich im Krankenhaus so einigermaßen wieder aufgepäppelt hatte, kehrte ich in die OJC nach Reichelsheim zurück – maßlos enttäuscht von Gott und von mir selbst und zutiefst zermürbt von meinen Bemühungen, Antworten zu bekommen. Es war einfach nichts mehr da – keine Kraft, kein Glaube, keine Ideen und gar keine Hoffnung auf irgendwas.

Ich bin unendlich dankbar, dass ich den „doppelten Boden“ der Gemeinschaft unter mir spürte und einen vertrauten Ort hatte, an den ich zurückkehren konnte. Viele Menschen bemühten sich um mich, freuten sich aufrichtig, dass ich wieder da war, hörten mir zu, beteten Sturm für mich, hielten mich aus.

Viel später habe ich einen Text von Fulbert Steffensky gefunden, der in seiner unnachahmlich präzisen Sprache beschreibt, wie ich es auch erlebt habe. Er erzählt von einem alten Priester, der ihm von seinem gebrochenen Glauben schrieb: „Ich fliehe oft in eine kleine Kirche, über Tag, wenn sie fast leer ist. Ganz leer ist sie nie. Da ist die dicke Frau mit dem dummen Gesicht; die Alte, die nicht aufhört, sich zu bekreuzigen, der Alte am Stock, der unter Ächzen eine Kniebeuge andeutet. Ich schlüpfe heimlich in ihre Gebete. Ich bete nicht mit eigenem Mund und aus eigenem Herzen, sondern mit dem Glauben der Dicken und des Krummen. Ich zahle mit gestohlener Münze.“

Steffensky fährt fort: „Ich verstehe den Glaubensschmerz dieses Priesters und liebe seinen klugen Ausweg: Mit gestohlener Münze zahlen. Er verfängt sich nicht in seinen eigenen Zweifeln. Er flieht in den Glauben der anderen, des Alten am Stock und der dicken Frau. Er schlüpft in ihre Gebete. Unsere Tradition – die Psalmen, das Vaterunser, die Evangelien – sie sind die Schlupflöcher des eigenen Glaubens, der seine alte Selbstverständlichkeit verloren hat“ (Aus: Fragmente der Hoffnung. Radius Verlag, Stuttgart 2019).

Ja, ich konnte in die Gebete meiner Geschwister schlüpfen, in meiner eigenen geistlichen Unbehaustheit durfte ich „im Haus ihres Glaubens Gast sein“. Das half mir, zu überleben und jeden Tag einen Fuß vor den anderen zu setzen, auf einem Weg, den ich nicht sehen konnte, den ich aber trotzdem gehen musste. Meinem Weg.

Ich verstehe diesen Gott nicht

Es mag Menschen geben, denen es leichter fällt, einen neuen Weg einzuschlagen, wenn der alte nicht funktioniert. Aber für mich war hier eine Welt zusammengebrochen und ich konnte nicht anders, als ALLES in Frage zu stellen.

Wie kann es sein, dass Gott das nicht verhindert hat? Hatte ich nicht wirklich alles gegeben, um die Berufung zu leben, die ER mir gegeben hatte? Wenn Gott es war, der mich nach Greifswald berufen hatte, war er dann letztlich nicht auch dafür zuständig, dass es gelang? Oder hatte ich die Worte und Zeichen seines Rufes falsch gedeutet? Und die ganz große Frage: Ich war doch von meiner Gemeinschaft für diesen Schritt gesegnet und gesendet worden. Wenn man gesegnet ist, heißt das nicht quasi automatisch, dass es gut wird? Und wenn etwas nicht gut wird, ist das dann, weil man nicht gesegnet ist?

Solche Fragen nagten an meinem Glauben wie Wind und Wetter an den Kreidefelsen auf Rügen. Was ist das für ein Gott, mit dem man so wenig rechnen kann, der aber Vertrauen und sogar Liebe verlangt? Der sich nicht an die Vereinbarungen hält und doch immer recht hat?

Diesen Gott wäre ich gern losgeworden. Aber mir wurde mit der Zeit klar, dass ich – ob ich wollte oder nicht – gar nicht anders konnte, als an einen Gott zu glauben. Dafür war die christliche Prägung viel zu tief in meine DNA eingeschrieben. Aber wie?

Das zermürbende Fragen und Streiten mit Gott kam erst dann ein wenig zur Ruhe, als ich mich entschloss, zwei ganz nüchterne Entscheidungen zu treffen:

Ich entscheide mich zu glauben,
dass es Gott gibt.

Ich entscheide mich zu glauben,
dass dieser Gott es gut mit uns
Menschen meint.

Diese zwei kleinen Sätze haben tatsächlich etwas verändert. Auf sie konnte ich mich zurückziehen, wenn meine verletzten Gefühle tobten und schrien. Und sie gaben mir einen festen Stand, als ich endlich bereit war, die vielen Dinge, die ich glaubte, von Gott zu wissen, loszulassen. Gott war offensichtlich anders, als ich bisher gedacht und überzeugt in vielen (Lobpreis-)Liedern gesungen hatte. Vielleicht wollte er sogar anders sein? Auf jeden Fall handelte er anders, als ich es für richtig hielt. Gottes Allmacht war dann wahrscheinlich auch etwas anderes, als ich bisher dachte. Ganz zu schweigen von seinem Willen, in das Leben von Menschen helfend einzugreifen oder auch nicht. Gott, mit dem ich doch schon Jahrzehnte unterwegs war, wurde mir unbekannt und fremd, aber auch unabhängiger. Größer. Wilder. Und zu dem bekannten Gefühl „Ich verstehe diesen Gott nicht“ gesellte sich leise so etwas wie Ehrfurcht.

Was man hofft

Auf meiner Suche nach Glaubenkönnen begegnete mir in einer Bibelarbeit folgender Satz: „Glaube ist die Verdinglichung dessen, was man hofft.“ Das gefiel mir, weil man diesen Satz auch andersherum lesen kann: Was man hofft, muss im Alltag Gestalt gewinnen, und das ist dann Glaube. Das heißt: Glaube und Hoffnung sind weniger Gefühle als Entscheidungen und Taten. Ich kann Hoffnung nicht machen. Weder für mich selbst noch für andere und erst recht nicht für die Welt. Aber ich kann heute so handeln, als würde morgen alles gut werden. Weil ich mich entschieden habe, an einen Gott zu glauben, der es gut mit uns Menschen meint.

Ich bin vorsichtig geworden mit großen Worten. Deshalb benutze ich das Wort „Hoffnung“ nicht sehr häufig. Dafür habe ich das Wort „Zuversicht“ entdeckt. Zuversicht ist für mich die kleine Schwester der Hoffnung. Zuversicht klingt irgendwie menschlicher, geerdeter, machbarer.

Und da stehe ich nun: Immer noch angeschlagen und auf Hilfe von Ärzten und meinen OJC-Geschwistern angewiesen. Immer noch mit unbeantworteten Fragen, enttäuschten Hoffnungen und der Scham über eine abgebrochene Sendung. Immer noch mit dem Schmerz, dass andere um mich herum ihre Berufung leben, ihre Hoffnungen verwirklichen können und ich nicht. Aber es ist nicht so, dass ich gar nichts habe: Ich bin wieder arbeitsfähig. Ich habe Freunde. Ich kann wieder das Vaterunser beten. Das ist nicht das Große, das ich immer haben und sein wollte. Aber es ist etwas.

Wieder ist es Fulbert Steffensky, in dessen Worten ich mich wiederfinde:

Die Sehnsucht nicht zu verlieren,
in der ich weiß, dass ich meine volle ­Bürgerschaft
in einem anderen Land habe,
das ist das eine.
Das andere ist die Tugend,
im Angebrochenen das Ganze sehen zu können;
die Fähigkeit, das Halbe wollen zu können,
wenn das Ganze nicht erreichbar ist –
ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren.
Was die Fülle und was das ganze Leben ist,
lernen wir aus dem, was uns fehlt und
woran wir leiden.

Und deshalb zünde ich Kerzen an, heute und hier. Für den Frieden zwischen der Ukraine und Russland, für die entführten Geiseln in Palästina, für die Freundin, die eine schlimme Nachricht bekommen hat, für Geschwister, die sich gerade schwertun mit Glauben und Hoffen. Ich muss nicht warten, bis mein Glaube wieder stark und vorzeigbar geworden ist, bis ich alle Antworten bekommen und alles Zerbrochene hinter mir gelassen habe. So wie ich jetzt bin, stelle ich eine Kerze ins Fenster.

Rebekka Havemann (OJC) arbeitet im Gästehaus Tannenhof. Ansonsten durchstreift sie noch immer leidenschaftlich gern die zauberhafte Natur des Odenwaldes.

Hoffen-Magazin 1 / 2024: Wir danken für das Alte und feiern das Neue!
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