E. James Wilder, Anna Kang, John Loppnow, Sungshim Loppnow –
James Wilder bezeichnet sich als Neurotheologe. Bewusst verbindet er theologische Einsichten mit Erkenntnissen der aktuellen Hirn- und Bindungsforschung. In diesem Buchauszug geht es darum, mitten in Unruhe, Angst, Schmerz, Einsamkeit zur Ruhe zu kommen und sich bewusst zu werden: Gott, Immanuel, ist für uns da.1
In den folgenden fünf Schritten lernen wir, wie sich unsere Gedanken mehr mit Gottes Gedanken „reimen“2 können. Die Schritte geben uns eine Struktur, mit der wir inmitten von Schwierigkeiten Gottes Wertschätzung für uns erkennen können. Wir werden uns Gottes Trost, seiner Hilfe und Gegenwart bewusst und können aus der Unruhe zum Frieden zurückfinden. Im Immanuel-Tagebuch werden die Schritte in derselben Sequenz gegangen, in der unser Gehirn Schmerz verarbeitet. Es ist der einfachste Weg, um vom Schmerz zur Wiederherstellung der Beziehung zu kommen. Durch das Immanuel-Tagebuch werden wir zur Dankbarkeit geführt und von da aus werden die für Beziehungen zuständigen neuronalen Verschaltungen im Gehirn wiederhergestellt und aktiviert.
Wir sind geschaffen mit der Sehnsucht nach Verbundenheit und lebensspendender Beziehung zu Gott und miteinander. Im menschlichen Gehirn gibt es bestimmte Verschaltungskreisläufe, die für Beziehungen zuständig sind. Sie sind wie Lichtschalter. Sind sie ausgeschaltet, ist es schwer, mit anderen und Gott in Verbindung zu sein. Deshalb muss zuerst dafür gesorgt werden, dass die Schalter „an“ sind. Erst dann können wir wahrnehmen, dass Gott wirklich an uns interessiert ist. Gefühle von Schmerz und Einsamkeit, insbesondere, wenn sie auf traumatischen Erfahrungen basieren, führen zur Abschaltung. Es kommt zu einem plötzlichen Blackout und das erklärt, warum wir Immanuel, Gott mit uns, nicht mehr erkennen können.
Zwischen klassischem Tagebuchschreiben und der Immanuel-Version gibt es einen entscheidenden Unterschied. Üblicherweise beschreiben wir unsere Erlebnisse, indem wir Gott in der Haltung „Ich-rede-mit-Gott“ ansprechen. Im Gebet sprechen wir zu Gott, während er uns zuhört. Im Immanuel-Tagebuch dagegen gehen wir davon aus, dass Gott uns nicht nur hört, sondern selbst das Gespräch mit uns initiiert. (Gott weiß, wenn wir nicht zu ihm kommen können, weil wir so in unserem Schmerz versunken sind oder uns aus Angst vor ihm verstecken.) So wie Gott das Gespräch mit Adam und Eva gesucht hat, als sie sich vor ihm verbargen, glauben wir, dass Gott sich uns zuwendet. Er initiiert die Wiederherstellung der Beziehung, denn er ist Liebe.
Wenn wir davon ausgehen, dass Gott uns nicht hört, machen wir aus dem lebendigen Gott unabsichtlich einen menschengemachten Götzen. Götzen haben Augen, können aber nicht sehen; sie haben Ohren, können aber nicht hören, einen Kopf und sind doch unwissend, sie haben Füße und können nicht laufen. Götzen, die uns nicht antworten, werden in der Bibel an etlichen Stellen beschrieben (5 Mo 4, Dan 5, Ps 115 und 135, Off 9).
Beim Führen des Immanuel-Tagebuchs stellen wir uns vor, dass Gott mit uns redet. Er beschreibt unsere Erfahrungen und wir schreiben auf, was wir wahrnehmen. Gott initiiert das Gespräch. Auch wenn unsere Gefühle Gott gegenüber nicht positiv sind und die Kreisläufe im Gehirn deshalb „abgeschaltet“ sind, kann im Schreiben entlang der folgenden Schritte in unserem Gehirn ein Wiederherstellungsprozess laufen. Wir können Gottes Immanuel-Gegenwart wieder wahrnehmen. Wir fangen an, Gott als den guten Vater zu sehen, der er ist. Die Schritte erlauben es uns, ruhig zu werden und inmitten unserer Erfahrungen Gottes Wertschätzung wahrzunehmen.
Immanuel-Schreiben basiert auf der Überzeugung, dass Gott Verbundenheit mit seinen Kindern sucht, dass Gott einfühlsam ist. In 2 Mose 3,7-8a lesen wir das Gespräch, das Gott mit Moses beim brennenden Dornbusch geführt hat.
Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land.
Gott sagt zu Moses, dass er sieht, hört, sorgt, mit seinem Volk ist und etwas tun wird für sie. Gott gibt uns hier eine „Vorlage“, wie wir unsere Gedanken mit seinen Gedanken in Übereinstimmung bringen können. In fünf Schritten lernen wir seine Perspektive kennen. In schwierigen Situationen, wenn uns etwas verwirrt oder beunruhigt, hilft uns Gott, unsere Beziehungsverschaltungen wiederherzustellen und zum Frieden zu finden. Wir hören, dass Gott zu uns sagt:
Ich sehe dich.
Ich höre dich.
Ich verstehe dich.
Ich bin gerne bei dir.
Ich kann dir helfen bei dem,
was du gerade durchmachst.
Schritt 1: Ich sehe dich
In 1 Mose 16 wird von Hagar erzählt, die in der Wüste einem Engel Gottes begegnet. Sie gibt Gott einen Namen: Du bist ein Gott, der mich sieht (V 13). Er sieht sie und ihre ganze Situation. Sich von Gott gesehen zu wissen hilft uns, den Schmerz schwieriger Situationen zu ertragen, ohne davon überwältigt zu werden. Der Gott, der den Schmerz und die Not von Hagar und den Israeliten damals sah, kennt auch den Schmerz und die Herausforderungen, denen wir uns heute stellen müssen.
Wie sieht mich Gott? Die Antwort darauf entscheidet, ob wir in eine tiefere Beziehung zu Gott hineinwachsen oder uns von ihm entfernen. Im Immanuel-Tagebuch versuchen wir, aus Gottes Perspektive zu schreiben. Er betrachtet uns liebevoll und teilt uns mit, was er bei uns sieht.
1. Zunächst beschreiben wir einfach die Umgebung und das eigene Tun, so als ob Gott uns schildern würde, was er sieht, z. B.
Ich sehe dich am Tisch sitzen.
Ich sehe, wie du auf den Monitor starrst.
Ich habe gesehen, wie du im Dunkeln auf und ab gelaufen bist.
Ich habe gesehen, wie du deine Kinder
angebrüllt hast.
2. Dann schreiben wir körperliche Empfindungen oder körperliche Reaktionen auf, die vielleicht nicht gleich sichtbar sind. z. B.:
Ich sehe, dass deine Kiefer verspannt und deine Fäuste geballt sind.
Ich sehe, wie du deine Schultern hochziehst.
Ich sehe, dass du die Luft anhältst.
Ich sehe, dass dir Tränen in die Augen steigen.
Schritt 2: Ich höre dich
In 1 Mose 21 begegnet uns Hagar erneut. Sie zieht durch die Wüste, wurde verbannt. Ihr Sohn Ismael ist jetzt ein Knabe. Gott weiß, was sie umtreibt und sucht das Gespräch mit ihr. Er sorgt für sie in ihrer Not, indem er ihr in der Wüste die Augen öffnet und sie einen Brunnen sieht. Gott, der die Not von Hagar gehört hat und die Not der Israeliten kennt, wird auch deinen Hilferuf heute nicht überhören.
In diesem Schritt schreiben wir auf, was Gott uns laut aussprechen hört, und auch, was wir innerlich denken. Hör genau hin, wenn Gott beschreibt, was er von dir hört und schreibe das auf. Erlaube Gott einfach, alles zu beschreiben und dir zu helfen, Gedanken an die Oberfläche zu bringen, unabhängig davon, ob du sie für gut oder schlecht hältst. Vielleicht ist es eine Herausforderung zu glauben, dass Gott unsere Gedanken hört und uns nicht verurteilt. Wir können hier leicht steckenbleiben, denn wir beurteilen unsere Gedanken und uns selbst. Gott kennt alle unsere Gedanken. Um nicht aus der Beziehung mit ihm herauszufallen, müssen wir erleben, dass wir gehört werden.
Wenn wir alle Gedanken wirklich zulassen, wird uns die schiere Menge verblüffen. Wir werden versucht sein, beim Schreiben etliche einfach wegzulassen, weil wir sie absurd oder unwichtig finden. Es ist aber wichtig, alle Gedanken aufzuschreiben, denn manchmal kommt etwas an die Oberfläche, das gelöst werden muss. Gedanken können Lügen oder Einreden transportieren, die wir entwickelt haben, um mit unserem Schmerz fertig zu werden. Solange sie verborgen bleiben und nicht durch Wahrheit ersetzt werden, bleibt der Schmerz.
1. Schreib auf, was Gott dir sagt, wenn er dir zuhört:
Ich höre dich leise weinen.
Ich höre, wie du zu deinem Kind/Partner/ Kollegen/Eltern sagst: ‚Ich hasse dich.‘
Ich höre dich sagen ‚Ich vertraue dir nicht.‘
oder: ‚Die Situation verunsichert mich.‘
2. Schreib auf, was Gott sagt, wenn er deine inneren Gedanken hört, z. B.
Ich höre, wie dein Herz und dein Denken rast.
Ich höre dich sagen: ‚Ich bin so blöd. Immer dasselbe mit mir.‘
Ich höre die tiefe Sehnsucht deines Herzens.
Ich höre deine Ängste, für die du dich schämst.
Schritt 3: Ich verstehe dich
Hagars Schmerz lässt sich gut nachvollziehen. Wir ahnen, wie schwierig ihre Situation als Fremde gewesen sein und wie verlassen sie sich gefühlt haben muss. Oft machen wir unseren Schmerz klein. Wir finden ihn unbedeutend angesichts der viel größeren Herausforderungen, denen sich andere stellen müssen. Aber Gott sieht, hört, weiß und versteht, warum eine bestimmte Sache so schmerzhaft für uns ist. Gott kennt unsere Geschichte. Er kennt uns besser als wir uns selbst. Wenn unsere Gefühle nicht wahr sein dürfen, können wir auch nicht getröstet werden. Gott versteht genau, warum etwas eine große Sache für uns ist. Wenn wir ernst nehmen, dass unsere Erfahrungen wirklich schwer sind, kann unser Gehirn zur Ruhe kommen. Im dritten Schritt fassen wir das in Worte. Gott kann unsere Resonanz erhellen, er schenkt Vergebung, Verständnis und Trost. Dieser Schritt hilft uns auch zu verstehen, dass wir jetzt vielleicht auf etwas reagieren, was in der Vergangenheit passiert ist, z. B.:
Das sieht aus, als ob es dich überfordert.
Ich verstehe, wie traurig dich das macht.
Ich verstehe, wie wütend du bist,
es leuchtet mir total ein.
Ich verstehe, warum dir das solche
Angst macht.
Ich verstehe, warum das so schwer für dich ist.Du hast dich immer allein gefühlt. Auch wenndein Kopf das heute versteht, dein Herz will zerspringen vor Angst.
Ich weiß, du glaubst, dass ich nicht für dich da bin, und das macht dir Angst.
Schritt 4: Ich bin gerne bei dir
Der Engel des Herrn traf Hagar in der Wüste. Sie war ihrer Herrin Sara davongelaufen, weil diese sie unfair behandelt hatte. Der Engel ergreift die Initiative, indem er sich Hagar zeigt, ähnlich wie Jesus bei seinem Gespräch mit der Frau am Brunnen. Niemand wollte etwas mit Frauen wie ihnen zu tun haben und behandelte sie verächtlich. Gott aber begegnet ihnen voller Liebe und Zartheit. Wir glauben, dass unsere Sünden und Schwächen Gott von uns fernhalten. Vielleicht denken wir, dass Gott sich mit Sündern nicht abgeben mag. Aber Gott freut sich immer, bei uns zu sein, so wie wir sind. In seiner Gegenwart werden wir verwandelt.
Im vierten Schritt schreiben wir Gottes Zusicherung seiner Liebe auf, indem wir hören, wie er sagt: „Ich bin gerne mit dir zusammen, mein Kind.“ Versuche wahrzunehmen, was Gott dir in freundlicher, zarter und liebevoller Weise vielleicht sagen möchte, z. B.:
Ich bin gerne bei dir.
Ich sehe auch deine schwachen Punkte liebevoll an.
Ich bin immer gerne mit dir unterwegs, auchjetzt in einer Zeit der Schmerzen/der Frustration/der Traurigkeit.
Vielleicht verurteilst du dein mangelndes Vertrauen in meine Güte und Liebe, aber ich verurteile dich nie.
Im Gegenteil: Ich bin froh und dankbar, dass du hier bei mir bist.
Genauso ist Jesus mit Petrus umgegangen. Jesus wusste, wie schrecklich es für Petrus war, ihn dreimal verleugnet zu haben (Johannes 21). Petrus war mit sich am Ende. Jesus suchte ihn auf und lud ihn – parallel zu der dreimaligen Verleugnung – dreimal zurück in die Beziehung ein. Nachdem Petrus diese Erfahrung gemacht hatte, gewann er neue Zuversicht.
Schritt 5: Ich kann dir helfen bei dem, was du gerade durchmachst
Zurück zu Hagar. Der Engel des Herrn zeigte ihr einen Gott, der aktiv und voller Güte in ihr Leben eingriff. Gott gab ihrem Sohn einen Namen und das Versprechen vieler Nachkommen. Der Engel sagte Hagar (die immer noch auf der Flucht war), dass sie zu ihrem Leben als Sklavin zurückkehren müsse. Sie musste also etwas Schwieriges tun. Gott nimmt unseren Schmerz sehr wohl wahr, aber er führt uns auch in schwierigen Situationen.
Im fünften Schritt können wir uns vorstellen und aufschreiben, was Gott uns vielleicht sagen möchte darüber, wie er bei uns ist und uns helfen will. Vielleicht erinnert er uns an seine Treue in der Vergangenheit und das gibt uns die Hoffnung, dass er sein Werk in uns, durch uns und in unserer Umgebung fortsetzt. Uns können Bibelverse oder Bibelgeschichten einfallen. Manchmal bittet uns Gott auch, einen schweren Weg zu gehen. Das Versprechen seiner beständigen Gegenwart, seiner zuverlässigen Liebe und reinen Güte werden uns die Kraft geben, z. B.:
Ich werde dir helfen.
Ich werde dir helfen, immer klarer zu sehen, wer ich bin und was ich in deinem Leben und in dieser Welt tue.
Ich halte dich in meiner Hand.
Ich liebe dich.
Mein Geist wird dich halten.
Ich schütze dich.
Ich beschirme und stärke dich.
Sieh auf, meinKind, wenn du verzweifelt bist, und sieh mit den Augen des Himmels.
Ich werde dich nie fallen lassen.
Meine Liebe zu dir ist grenzenlos, sie ist größer als deine Unfähigkeit, zu vertrauen, deine Angst und die falschen Götter, denen du dienst.
Ich bin dein Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Meine Macht ist grenzenlos.
Ich halte dich in meiner rechten und gerechtenHand.
Lass dich heilen durch meine Güte und Wahrheit.
Der Geist der Verwirrung und Selbstverurteilung wird verschwinden.
Ich bin bei dir heute Nacht und du sollst gut schlafen in dem Wissen, dass wir das gemeinsam angehen können.
Ich gebe dir die Worte, mit denen du die Situation klären kannst.
Ich gebe dir ein fleischernes Herz, damit du dich in den anderen hineinversetzen kannst.
Gott freut sich daran, unter allen Umständen bei uns zu sein. Er macht immer den ersten Schritt, um die Beziehung zu ihm und zu anderen wiederherzustellen. Er setzt sich immer für uns ein. Das Immanuel-Tagebuch hilft uns dabei, uns dessen immer wieder und immer mehr bewusst zu werden.
Sungshim Loppnow hat gemeinsam mit Anna Kang und John Loppnow unter der Anleitung von E. James Wilder eine
Form des Tagebuchführens entwickelt, die Menschen auf der ganzen Welt hilft, die Nähe zu Gott zu vertiefen.
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Anmerkungen:
1 Immanuel: Gott mit uns. Wird in Mt 1,23 mit Jesus gleichgesetzt. Anm. d. Red.
2 Im amerikanischen Original wird der Begriff „thought rhyming“ geprägt: Gedanken reimen. Unsere Gedanken sollen sich mit den Gedanken Gottes „reimen“. Wir sollen lernen, das zu denken, was Gott über uns denkt. Der Mensch, geschaffen nach dem Abbild Gottes, soll auch in seinen Gedanken etwas vom Wesen Gottes widerspiegeln, natürlich in unseren Grenzen. Wir sollen Jesus ähnlicher werden und in sein Denken über uns hineinwachsen. Aber können wir uns bei diesen Übungen des Hörens auf Gott, des „aus Gottes Perspektive schreiben“ auch täuschen? Wilder schreibt: Ja, natürlich. Wir sollten nie annehmen, dass wir Gottes Stimme ohne Verzerrung hören. Deshalb sind nach Wilder drei Checks wichtig: 1. Stimmt das, was ich von Gott höre, mit der Bibel überein, spiegelt es etwas vom Charakter Jesu wider, wie er in der Bibel geoffenbart ist? Verurteilende, herabsetzende oder feindselige Gedanken sind nie von Gott. 2. Spüre ich nach Aufschreiben der Gedanken inneren Schalom, Frieden? Spüre ich, dass es stimmig und wahr ist? 3. Es kann hilfreich sein, die aufgeschriebenen Gedanken mit einer geistlich reifen Person auszutauschen und zu hören, was sie sagt. Wilder, S. 54-56; 64-65. Anm. d. Red.
Aus: Joyful Journey, Listening to Immanuel by E. James Wilder, Anna Kang, John Loppnow, Sungshim Loppnow, Presence and Practice, 810 Arland Ave., Los Angeles, CA 90017, S. 40-44.
www.presenceandpractice.com