Immer wieder ein letztes Mal

Vertraut werden – einander loslassen

Es ist so weit: wir sitzen auf einem Mäuerchen der Burganlage in Lindenfels, in den Händen ein Eis des besten Italieners der Stadt, die Abendsonne wärmt uns den Rücken. Es riecht nach Sommer und Ferien. Und nach Abschied. Denn in wenigen Tagen werden die vier jungen Frauen in ihren nächsten Lebensabschnitt aufgebrochen sein.
Wehmut liegt in der Luft. Wie schnell dieses Jahr doch vorbeiging.
Die Erinnerungen an den Anfang sind noch so warm wie die Mauersteine.
Vor einem knappen Jahr saßen wir an genau ­diesem Ort und sind miteinander in ein Jahr des gemeinsamen Lebens gestartet. Wir erinnern uns lachend an die ersten Eindrücke voneinander, an die Fremdheit, die noch zwischen uns lag. Damals hatten wir uns Decken mitgenommen, weil es Anfang September schon frisch sein kann. Mit Blumen und Steinen hatten wir im Kerzenlicht unsere Vorfreude und Befürchtungen in die Mitte gelegt. Alles war noch offen, das Jahr unverbraucht.
Seit vielen Jahren ist dieser kleine Ausflug unser Anfangs- und Abschluss-Ritual mit den „Dorf-Frauen“ der FSJ-Wohngemeinschaft, die ich mit meinen Gefährtinnen begleiten darf. Und jedes Jahr, wenn die neue Runde beginnt, schaue ich in die Gesichter und stelle mir vor, wie das sein wird, wenn wir in einiger Zeit keine Unbekannten mehr sein werden. Wenn wir uns nicht mehr nur unsere Schokoladenseiten zu zeigen versuchen, weil wir wissen, dass wir dem anderen sowieso nichts mehr vormachen können. Wenn wir unsere Macken kennen. Wenn wir an den Kämpfen des Anderen Anteil nehmen dürfen. Wenn wir es wagen werden, uns einander zuzumuten. Und wie das sein wird, wenn wir nach einem Jahr am ­selben Ort, aber als veränderte Menschen, unsere gemeinsame Reise beenden werden.

Jedes Mal kommt es mir wieder wie ein Wunder vor, wenn das Vertrautwerden geschieht. Es kommt nicht von selbst und nicht über Nacht. Manchmal liegen Strecken der Einsamkeit und des inneren Rückzugs dazwischen. Es gibt zahlreiche Stolperfallen und gefährliche Abzweigungen, die dazu verleiten wollen, in Misstrauen und Rückzug zu verharren. Wenn unsere Unterschiedlichkeit uns bedroht, brauchen wir unzählige Male die innere und äußere Vergewisserung: „Wir sind uns gut.“ Müssen unserer eigenen Unvollkommenheit ins Gesicht sehen. Dürfen er­leben, was es heißt – was es wirklich heißt – angenommen zu sein. Von Gott, von den anderen, von uns selbst.
Manchmal dachten wir schon, es kommt diesmal nicht. Es klappt nicht mit dem Vertrautwerden. Und dann ist es doch noch gekommen. Manchmal ganz leise durch die Hintertür, manchmal erst auf der Zielgeraden. Aber auf einmal war es da.
Und jetzt sitzen wir also wieder hier. Angefüllt mit gemeinsamen Erfahrungen, bis oben hin voll mit geteiltem Erleben. Mit einer tiefen wohligen Gewissheit im Bauch, dass wir einander kennen, dass uns nichts und niemand diese erlebte Zeit rauben kann. Wir sitzen hier als Vertraute. Als Weggefährten. Irgendwie auch als Freunde.

Viele letzte Male

„Letzter WG-Abend“ stand auf dem Programm der Abschlusswoche. Hinter uns liegen viele „letzte Male“ mit dieser Mannschaft. Es gab Auswertungen, Austauschrunden, das Abschluss-Seminar. Vor uns liegt als einer der letzten Höhepunkte unser Abschiedsfest mit geistlicher Feier und lustigem Programm. Dann kommen die letzten Tage mit „Packen und Putzen“ bis die letzte Ritze sauber und staubfrei ist. Danach mit letzter Kraft die letzte Stockbrotrunde mit der ganzen Mannschaft. Und dann ist Sonntag. Letzter Gottesdienst, letztes Mittagessen, allerletzte Abschlussrunde mit letztem Segen, Gepäck einladen, letzter Gang durch die Wohnung, WG-Foto aufhängen und dann auf der letzten Rille – der ABSCHIED.
Man kann uns sicher manches vorwerfen, aber nicht, dass wir das Ende nicht bewusst – sehr ­bewusst – gestalten. Die zahlreichen Abschluss-Segen müssten den jungen Leuten locker für die nächsten zwei Jahre reichen.
Wir sind glücklich und auch ein bisschen stolz über alles, was in diesem Jahr im Leben dieser jungen Menschen geworden und gewachsen ist. Wir durften dabei sein, Anteil nehmen, lernen und staunen. Wir fühlen uns außerordentlich ­beschenkt.
Und wir sind erschöpft. Denn wir haben einmal mehr unser Herz riskiert, haben uns eingelassen auf diese jungen Menschen und ihnen nicht ein Programm, sondern Beziehung, Freundschaft und Anteilnahme an unserem Leben angeboten. Und das kann man nicht abhaken und aus­tauschen. Das erfordert auch von unserer Seite ein echtes Loslassen und Abschiednehmen.

Nachdem das letzte Auto vom Hof gefahren ist, stehen wir mit hängenden Schultern beieinander, die Taschentücher noch in der Hand. Die Spannungskurve ist am Tiefpunkt.
„Wie viele Male kann ein Herz das verkraften?“ fragt meine Gefährtin leise. Ich weiß es nicht. Nicht unendliche Male, das ist sicher.
Für die nächsten drei Wochen ist „neue Mannschaft“ ein Unwort und jeder Gedanke daran wird erfolgreich unterdrückt. Für einige Zeit erscheint es unvorstellbar, dass in Kürze fremde Menschen in den Betten der „Alten“ schlafen werden. Und dass alles wieder ganz von vorn los­gehen soll.

Aber am 1. September … hängt ein neues Willkommensschild an der Tür, wir begrüßen die schüchternen Neuen mit aller vorhandenen Herzenskraft und brechen zum ersten WG-Abend auf Burg Lindenfels auf. Die Erinnerungen an die letzte Mannschaft sind noch so warm wie die Mauersteine. Aber wenn wir in die erwartungsvollen Augen der jungen Menschen schauen, ahnen wir, dass wir in einem Jahr wieder hier sitzen werden. Wir werden einander vertraut sein, uns lachend an den Anfang erinnern und schweren Herzens Abschied nehmen.

Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2020: Na endlich! Vom Ziel her leben!
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