Ist unser Glaube eine Zumutung?

Die Zumutung ist verloren gegangen. Sie hat sich durch die Hintertür der Postmoderne hinausgeschlichen. Der christliche Glaube ist vom Kern her eine enorme Zumutung, aber davon ist heute nicht mehr viel übriggeblieben.

  1. Mutloses Christentum heute

Wer ärgert sich in unserer christlich geprägten westlichen Gesellschaft noch über die Zumutung der Worte Jesu? Wer empfindet den Charakter der christlichen Botschaft noch als skandalös? Wo wird über die uns alle unbedingt betreffende Wahrheit des Christentums öffentlich diskutiert? Wer ringt mit dem Evangelium, ob sich in ihm nicht doch die ganze Wirklichkeit über die Welt und den Menschen offenbart?

Der christliche Glaube wird hierzulande weit­gehend als belanglos wahrgenommen. Seelsorge geht kaum über Lebenshilfe hinaus. In Predigten versuchen wir, missionarisch anschlussfähig zu sein und stellen positiv besetzte Aspekte heraus. Wiederkehrende Kernsätze lauten: Gott hat alles wunderbar geschaffen. Du bist geliebt. Gott behütet dich und ist dir nah. Er schenkt dir Sinn im Leben. Du darfst so sein, wie du bist. Bei Gott findest du Ruhe. Liebe deinen Nächsten. Du gehörst zu einer Gemeinschaft.

Bitte nicht falsch verstehen! Das sind alles wahre und zentrale Aussagen, doch zugleich werden andere ebenso wichtige biblische Gesichtspunkte weggelassen, als könne man sie glauben oder nicht!

Das Comedy-Duo Superzwei hat es mit dem Bi-ba-bo sarkastisch auf den Punkt gebracht: Der Bibelbastelbogen ist eine Bibel mit perforierten Seiten zum leichten Heraustrennen unbequemer Passagen!

Dazu kommen die Theologiemüdigkeit und fehlende Mündigkeit vieler Christen, die Bibel zu lesen, die christliche Lehre zu studieren und den eigenen Glauben zu reflektieren. Seit ich bei der OJC bin, habe ich den Satz „Glaube beginnt persönlich, bleibt aber nicht privat“ schon häufig gehört.

Eine wirkliche Zumutung geht heute vom christlichen Glauben nur noch in manchen ethischen Debatten aus, u. a. bei Themen des Lebensschutzes (Abtreibung, Sterbehilfe) und der Sexualität (Ehe von Mann und Frau, Homosexualität, Gender). Aber an inhaltlichen Aussagen der christlichen Botschaft stört sich kaum jemand. Der Gottesbezug ist für viele nicht mehr relevant. Auch unsere christlichen Ohren sind das Evangelium so gewöhnt, dass wir nicht mehr das Befremdliche daran hören. Hier können uns Menschen im Osten Deutschlands, die säkular aufgewachsen sind, helfen. Wer vergessen hat, dass er Gott vergessen hat, hat den Vorteil, die christliche Botschaft unverfälscht und ganz neu hören zu können.

  1. Gottes Zumutung

Was wir Christen so locker im Glaubensbekenntnis abspulen, ist eine Fülle an Zumutungen. Auch Jesus machte sich wenig Mühe, Zumutungen abzumildern.

Zumutung im Wesen Gottes

Es gibt eine Zumutung des Glaubens, ein ganz offensichtliches Problem, das aber kaum jemand anspricht. Konfirmanden tun es trotzdem. Zum Abschluss der Konfizeit stellte ich ihnen immer ein paar Fragen, z. B. was für sie das Schwierige beim Glauben sei. Etwa 90% antworteten darauf, dass man Gott nicht sehen könne. Auch in Gesprächen mit meinen eigenen Kindern taucht die Unsichtbarkeit Gottes immer wieder auf. Interessanterweise spielt es aber für Erwachsene kaum eine Rolle, dass Gott für unsere menschlichen Augen nicht wahrnehmbar ist. Man kann dieses Problem theologisch mit der Heiligkeit und Größe Gottes klären, auf Moses geringfügiges Nachschauen Gottes am Sinai verweisen (Ex 33) und das Jesuswort an Thomas anfügen (Joh 20,29): Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Aber die Zumutung für unseren Glauben bleibt nicht zu unterschätzen: Wir nehmen etwas bzw. jemand als letzte Gewissheit und Fundament unseres ganzen Lebens, was sich mit unserer Wahrnehmung nicht bestätigen und mit der Wissenschaft nicht beweisen lässt. Gott mutet uns zu, dass der Glaube an ihn ein Geschenk des Vertrauens, der Erfahrungen und der Offenbarung bleibt. Also unverfügbar, ein bleibendes Ringen.

Zumutung im Handeln Gottes

Unser Kosmos ist kein abgeschlossenes Aquarium. Gott greift ein. Es gibt heutzutage ein gestiegenes Interesse an übersinnlichen Erfahrungen, größtenteils vorbei an den christlichen Kirchen. Gottes tatsächliches übernatürliches Handeln gilt jedoch als Zumutung in einer Zeit, in der alles innerweltlich erklärt werden möchte.

An dieser Stelle könnte eine Vielzahl der Taten Gottes aufgelistet werden. Hier nur ein paar kurze Schlaglichter: Diese Welt hat Gott gemacht und sie gehört ihm allein – was eine Zumutung! Er hat sich das kleine Volk Israel erwählt – welch ein Ärgernis für viele bis heute! Jeder Mensch ist ein elender Sünder – unverschämt! Gott selbst wird in Jesus ein Mensch und sieht sich als Sohn Gottes – Skandal, Spinnerei und Gotteslästerung! Jesus geht übers Wasser – unglaublich! Jesus weckt Tote auf – unmöglich! Menschen werden geheilt, als der Schatten von Petrus auf sie fällt – irritierend!

Und schließlich: Als Zumutung erleben wir Christen auch immer wieder das scheinbare Nicht-Handeln Gottes. In den Psalmen wird Gott betend aufgefordert, aufzuwachen (Ps 35,23; doch 121,4 und 1 Kön 18,27). Die metaphorisch als Schlaf ausgedrückte vermeintliche Tatenlosigkeit des Allmächtigen wird für uns zur Geduldsprobe in Situationen, wo er aus unserer Sicht etwas tun müsste.

Zumutung im Reden Gottes

Im Anschluss an die meisten Gottesdienste gehen spätestens nach dem Kirchencafé alle einfach nach Hause. Der Prediger kann dankbar sein, wenn er überhaupt eine Rückmeldung erhält. Das lief bei Jesus oder auch Paulus ganz anders ab! Wenn sie predigten, teilte sich die Hörerschaft. Die einen ließen alles hinter sich und fingen ein neues Leben in Jesu Nachfolge an. Die anderen ärgerten sich, gingen weg oder wollten ihn umbringen. Da scheiden sich die Geister.

Einmal spricht Jesus nach der wundersamen Brotvermehrung über das Abendmahl (Joh 6) und meint, dass er das Brot des Lebens sei. Wer ihn esse, werde ewig leben. Wie reagieren die Leute darauf?

Viele von seinen Schülern, die das hörten, sagten: ‚Diese Aussagen sind eine Zumutung. Wer will sich so etwas anhören?‘ Jesus wusste in seinem Innern, dass seine Schüler an diesen Aussagen Anstoß nahmen. Da sagte er zu ihnen: ‚Reicht das schon aus, um euch aus der Bahn zu werfen? Wie wird es erst sein, wenn ihr mit euren eigenen Augen sehen werdet, wie der ewige Menschensohn wieder hinaufsteigt an den Ort, wo er vorher gewesen ist?‘ Joh 6,60-63 (Das Buch)

In der Bibel entdecken wir neben oft zitierten Taufsprüchen und schönen Kalenderweisheiten einige Zumutungen (z. B. Ri 19). Der Dresdner Altbischof Joachim Reinelt meinte treffend: „In dieser Welt muss eine heilige Frechheit gepflegt werden. Jesus hat schließlich auch ohne Hemmungen ziemlich Klartext geredet“.

Ja, es gilt, Jesus wieder beim Wort zu nehmen und uns Unzumutbares zumuten lassen. Z. B. Mk 10,21: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen. Lk 6,27: Liebe deine Feinde! Joh 14,6: Niemand kommt zum Vater außer durch mich! Mt 16,24: Wer mir nachfolgen will, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Eine Zumutung nach der anderen!

  1. Zugemutetes Leben – ein Einschub

„Das ist ja eine Zumutung!“ sagen wir, wenn bestimmte Umstände unseres Lebens uns herausfordern. Der Lärm der neuen Autobahn ist eine Zumutung für die Anwohner. Die Forderung, nach einem langen Arbeitstag noch zu bleiben, ist eine Zumutung für die Verkäuferin. Das nächtliche Geschrei des Babys ist eine Zumutung sondergleichen für die jungen Eltern. Das dreckige Klassenzimmer unzumutbar für die Kinder.

Was ist nun, wenn diese Zumutungen näherkommen: „Mit dieser Krebs-Diagnose wird dir viel zugemutet.“ Oder wenn ein lieber Mensch stirbt. Christlich gewendet heißt es dann manchmal: „Gott hat dir damit viel zugemutet.“

Die größte Zumutung des menschlichen Seins ist der scheinbar endgültige und alles abbrechende Tod; eine Kränkung des Ichs mit Schmerz und Tränen. All das Kaputte, Verlorene und auch die Schuld dieser Welt und in uns. Das Leid des Krieges, das Leid der Krankheit, das Leid der Trennung, das Leid des Missbrauchs, das Leid des Sterbens. Das sind die unzumutbaren Zumutungen. Sie werden für uns zu Ernstfällen des Glaubens.

  1. Zusammentreffen der Zumutungen

Wenn beides zusammenkommt, Gottes Zumutung und die Zumutung von Menschen, wird es spannend. Sie treffen sich am Kreuz. Allein dort wird alle menschliche Zumutung beantwortet und gelöst durch Gottes Zumutung.

Wir könnten jetzt das Kreuz thematisieren, die Debatte um den Sühnetod theologisch erörtern oder gesellschaftliche Diskussionen um das Kruzifixurteil analysieren. Machen wir aber nicht! Damit gingen wir der unerhörten Zumutung des Kreuzes aus dem Weg und hielten dieses entscheidende Geschehen auf harmlose Distanz. Das Kreuz ist der Schlüssel für alle oben genannten Problemstellungen.

Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Korinther grundlegend vom Glauben: Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. … Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.  1 Kor 1,18+23

Das Wort vom gekreuzigten Christus nennt Paulus auf der einen Seite einen unerhörten Skandal und auf der anderen einen unglaublichen Irrsinn. Das Kreuz ist und bleibt die Zumutung für die ganze Welt. Unverstanden bleibt die christliche Frechheit: Der ewige Gott als menschlicher Leidensbruder! In Gethsemane zerbricht es Jesus. Gott stirbt auf Golgota. Gerade die Schwachheit und Sinnlosigkeit des elenden Leidens und Sterbens am Folterkreuz gebraucht Gott paradoxerweise, um alle weltliche Weisheit zu entkräften.

Der lebendige Herr hat sich in Jesus Christus alles zugemutet, damit wir ermutigt und getröstet werden. Das Selbstopfer des Menschensohnes eröffnet uns den Weg zur Erlösung und zur Auferstehung. Tod schafft ewiges Leben. Das Osterfest ist für den Verstand, der gewohnt ist, logische Linien zu ziehen, eine drastische Zumutung.

Für uns Christen wird es zur echten Zu-Mutung! Bei allem Zweifeln, Fragen und Ringen bekommen wir hier geistesnah das Schöne und Bleibende zu greifen. Alteingesessene und frisch zum Glauben Gekommene erfahren Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit (1 Kor 1,24). Und hier haben wir nun die Zumutung der unverdienten Gnade, die aller menschlichen und kapitalistischen Ordnung widerspricht: Obwohl wir es nicht verdienen – und auch niemals verdienen könnten –, macht er uns Sünder zu Gerechten. Gott sei Dank!

  1. Mutiges Weitergehen

Was ist für dich eine Zumutung? Wo begegnet dir die Fremdheit der Bibel? Ist der Glaube noch eine Zumutung? Welche Aussagen scheinen dir unzumutbar? Warum? Wo nimmst du wahr, dass Glaube sich bei unseren Mitmenschen als Zumutung darstellt? Wie kannst du neu den Trost des Kreuzes erfahren? Wem möchtest du seelsorgerlich bei Zumutungen beistehen?

Ich möchte mit diesem Beitrag aufrütteln, den Schatz des Evangeliums aus der gezähmten Belanglosigkeit befreien, ihn neu beleben und erlebbar machen. Zugleich ist es mein Gebet für Menschen, denen viel zugemutet wurde: Sie mögen Ermutigung in Christus finden. In dem, der sich im Kreuz alle Zumutungen der Welt zugemutet hat. In dem, der uns den Himmel öffnet. Und dann vertraue ich, dass das Pauluswort (1 Kor 10,13) sich als zutreffend erweist: Was eurem Glauben bisher an Prüfungen zugemutet wurde, überstieg nicht eure Kraft. Gott steht treu zu euch. Er wird auch weiterhin nicht zulassen, dass die Versuchung größer ist, als ihr es ertragen könnt. Wenn euer Glaube auf die Probe gestellt wird, schafft Gott auch die Möglichkeit, sie zu bestehen. Ja, wir dürfen ihm unverschämt alles zumuten (Lk 11,5-13), was unser Herz belastet. Er trägt es. Ihm ist alles zuzumuten.

Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2023: Achtung! Dieses Heft ist eine Zumutung!
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