Kannst du loslassen? – Wenn die Familienzeit zu Ende geht

Hanne Dangmann –

Es ist der Weitsicht meines Mannes zu verdanken, dass wir einen ganz bewussten Übergang zur ­Lebensphase „Ehepaar mit (fast) erwachsenen Kindern“ hatten. Ich erinnere mich genau an das Gefühl wankenden Bodens, als er erstmals von seiner Idee sprach. Wir wussten, dass Linus, unser Jüngster, in ein Auslandsschulhalbjahr gehen würde, während Claudio, der Ältere, sein Studium antreten wollte. „Das wäre für uns als Ehepaar die Gelegenheit für eine Sabbatzeit, ohne Aufgaben, ohne Kinder und außerhalb der OJC-Gemeinschaft.“

Ich ließ mich zögernd auf den Gedanken und auf erste Planungen ein. Rückblickend nehme ich wahr, wie verunsichernd dieses „ohne Aufgaben“, „ohne Kinder“ in der Tiefe für mich war. Denn unser Leben war prall gefüllt mit vielseitigen ­Tätigkeiten und zahlreichen Beziehungen.
„Ohne Kinder“, das war jahrelang ein Zauberwort, ein Sehnsuchtswort: Ein Abendspaziergang zu zweit, Essen gehen zu zweit! Diesen einzigartigen Erlebnismomenten folgte dann die turbulente Phase des Selbstständigwerdens unserer Jungs: ein Kommen und Gehen zwischen Schule, Sport, Freunden, Chor und späten Bettgehzeiten. Das deutlich spürbare Ausbreiten kleiner, starker Persönlichkeiten, die Wille und Gegenwille ent­wickelten und diskussionsfreudig jedes Ruhe­bedürfnis unsererseits bezwangen – egal zu welcher Uhrzeit. Die Zeiten „ohne Kinder“ dehnten sich allmählich für uns aus, aber innere Präsenz und Auseinandersetzung nahmen zu. Was denke ich zu: Ich will mehr Taschengeld? Darf ich zur Übernachtungsparty? Wann darf ich endlich ein Handy haben? Fragen, die mir oft das Gefühl ­gaben, überrumpelt zu werden. Als Ehepaar ­haben diese Klärungsfragen uns Zeit und Energie gekostet, wollten wir die Antworten doch mit Augen­maß und Liebe verantworten.

Vom 17-jährigen Ältesten hörte ich dann schallend den Vorwurf „Du kannst nicht loslassen“, als ich ihn zu fünf mageren Familienurlaubstagen am Gardasee zu überreden versuchte, bevor er mit seiner Clique zum Musikfestival ging. Mein Mann schwieg und stellte mir die gleichen Worte dann als Frage, um meine Motivation zu klären. Urlaub mit einem übellaunigen Teenager ist nicht lustig, er war geneigt, ihn daheim zu lassen. Doch ich konnte ganz gut formulieren, was mich antrieb: Solange wir noch zusammen lebten, Schulalltag und Familienleben miteinander verwoben war, war mir gelegen an Verbundenheit jenseits von: „Hast du schon die Mülleimer geleert?“ „Komm nicht so spät nach Hause, du musst ­morgen früh raus.“

Probelauf „ohne Kind“

Die Idee eines Auslandsschulhalbjahres kam ganz ohne Sorge um Ablösungsschmerzen daher: Wir wollten ihnen ermöglichen, ihre Englischkenntnisse zu verbessern und ein anderes Umfeld kennenzulernen. Am Morgen der Abreise sagte mein Mann: „Komm, wir sagen es einfach ab.“ Besser hätte ich meine zwiespältigen Empfindungen nicht in Worte fassen können. Und in der Abflughalle des Flughafens musste ich an den Kreißsaal denken, aus dem ich gefühlt doch gerade erst das allerschönste Baby mitgebracht hatte, nachdem wir überraschend und wundersam nach zehn kinderlosen Jahren Eltern geworden waren: Alles Wesentliche, was ich sagen, teilen, prägen wollte, musste zwischen diesen beiden Orten gelegen ­haben.
Die Tür zum Kinderzimmer stand meist offen, während die Jungs im Ausland waren: Für mich ein Symbol der ausgeflogenen, flügge gewordenen Kinder, dem ich abwechselnd mit Erstaunen, Trauer, Wehmut, Freude gegenüberstand. Und immer auch Anlass, ein Gebet hinterher zu ­schicken.
Unsere Sabbatzeit hatte zwei Teile: Rückzug für Besinnung und Neuausrichtung. Fragen durften sich formulieren und wir hatten Zeit, sie innerlich und vor Gott zu bewegen. Dafür hatten wir Unterschlupf in einem Häuschen im ländlichen Italien gefunden: ohne Menschen, ohne Internet und Fernsehen. Als ich endlich – auch innerlich – angekommen war, war ich erstaunt, dass mich dieses „frei von allem“ mehr geängstigt hatte, als der übervolle fordernde Alltag als Leitungsmitglied, Ehefrau, Mutter. Erst da dämmerte mir, wieviel Sicherheit und Zugehörigkeit mir dieses Gebrauchtwerden gegeben hat. Wie „unsicher“ ich mein Dasein erlebe, wenn ich es frei definieren darf. Diesen inneren Themen konnte ich in der Auszeit nachgehen.
Wir telefonierten in dieser Zeit mit unseren ­Kindern in der Ferne: „Wie geht es euch?“ „Und wie geht es euch?“ Das waren mehr als nur ­Höflichkeitsfloskeln, erschlossen uns doch diese Fragen die jeweils ganz andere Erlebniswelt, zu der man nun nicht mehr gehörte. Es wurde zum Wahrnehmen des Neuen, was nun auf uns ­zukommen sollte: Eltern von erwachsenen, selbstständigen Kindern zu werden, wir als Paar in der dritten Lebensphase.
Wie möchte ich mein Leben gestalten, wenn es nicht mehr von den Bedürfnissen der Kinder bestimmt wird? Wofür will ich meine Energie in den nächsten zehn Jahren investieren? Gibt es ­eine Sehnsucht, etwas Neues, dem ich nachgehen möchte? Welche Aktivitäten beflügeln unsere Paarbeziehung? Woran knüpfen wir an? Was ­probieren wir neu aus? Diese Fragen haben mich und uns in den neuen Abschnitt begleitet.

Mom, ich brauch mal

Unser Esstisch ist Symbol einer gelingenden ­Beziehung zu unseren großen Kerlen geworden: Als Ort lautstarker Auseinandersetzungen und manch unschöner Szene, aus der irgendeiner heulend geflohen ist (auch ich!). Dorthin kehren sie nun sehr gerne zurück, lieben den üppig gedeckten Tisch und unser gegenseitiges Erzählen.
Wenn wir einander Anteil geben, ich höre, was sie beschäftigt, und ich meine mütterlichen Sorgen nicht in Kontrolle und Moral verpacke, dann gelingt lebendige, beglückende Beziehung auf Augenhöhe: ob in der Corona-Beschränkungs-Zeit wieder zu viert daheim in einer Alltags-WG oder auch jeder in seinem Leben. Der schöne Satzanfang: „Mom, ich brauch mal einen Rat von dir“, ist für mich Ausdruck dieses neuen Abschnitts. Und auch wir fragen ihr Können und Wissen ab. Ich nehme wahr, dass ich sie nicht verloren habe, sondern uns zwei erwachsene Persönlichkeiten zum Gegenüber werden und unser Leben bereichern. Als wäre der Ursprungsauftrag erfüllt, zwei ­kleinen Jungs Heimat und Richtung zu geben, ­damit sie nun ihr eigenes Leben gestalten.

Hanne Dangmann (OJC) lebt mit ihrem Mann Frank seit 1994 in der OJC. Sie gehört zum Priorat der Kommunität.

Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2020: Na endlich! Vom Ziel her leben!
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