Die leise Ahnung von dem „Dahinter“
Es ist Freitagmorgen, kurz nach sieben. Wir sitzen wie jede Woche in der Schlosskapelle beim Abendmahlsgottesdienst. Die vertraute Liturgie nimmt ihren Lauf, altbekannt und längst auswendig abgespeichert. Die Kantorin versucht ein eingestrichenes F als Anstimmton zu treffen. Eine mittlere Herausforderung um diese Uhrzeit. Die Stimme ist noch nicht wach. Auch die anderen Sinne kämpfen noch. „Öffne meine Ohren, Heiliger Geist, damit ich deine Botschaft höre“, heißt die erste Strophe des Chorus, der nacheinander die Sinne durchbetet und den Heiligen Geist um Sein Öffnen bittet.
„Öffne“ ist das wohl wichtigste Wort in diesem Lied. Öffnen muss man nur etwas, das noch verschlossen ist. Und wenn etwas offen ist, ist es durchlässig. Wie bei einem offenen Fenster, das das Einströmen von sauerstoffreicher Luft möglich macht.
Ich stelle mir vor, welche Öffnungsbewegungen es gibt. Am leichtesten geht es bei den Augen. Irgendwie scheint das Öffnen auch etwas mit „aufgeweckt werden“ und „wach werden“ zu tun zu haben. Auch meine Hände kann ich leicht öffnen. Aber wie öffnet man seine Ohren, seinen Geist, sein Herz?
Es ist eine ungewöhnliche Bitte. Normalerweise bitte ich nicht jemand anderen darum, dass er meine Sinne öffnet. Müsste ich nicht selbst dafür sorgen können?
In dieser Bitte um Sein Öffnen klingt eine Ahnung davon an, dass es ein „Dahinter“ gibt. Etwas, das hinter unserem vordergründigen Wahrnehmen liegt. Etwas, für das es ein tieferes Aufmachen braucht, über das wir nicht verfügen. „Es git no Sache ähnedra…“ („es gibt noch Sachen auf der anderen Seite“) steht auf Alemannisch auf dem Grabstein meines Großvaters, der lange vor meiner Geburt gestorben ist, und der, nach dem Wenigen, was ich von ihm weiß, sicher kein frommer Mann gewesen ist. Und der doch eine leise Ahnung davon hatte, dass es da etwas gibt, „ähnedra“. Oft ist das Wahrnehmen dieser Wirklichkeit Gottes eher leise und behutsam. Aber es gibt auch andere Momente, wie in 2 Kön 6,17, als der Prophet Elisa, umlagert von einem feindlichen Riesenheer und begleitet von einem verzagten Diener, betet: Herr, öffne ihm die Augen, dass er sehe! Da öffnete der HERR dem Diener die Augen, und siehe da war der Berg voll feuriger Rosse und Wagen um Elisa her. In einem neueren Lied heißt diese Erfahrung so: „It may look like I’m surrounded, but I’m surrounded by You.“
Jedes Mal, wenn ich in Berührung mit dem „Dahinter“ komme, ist es, als würde etwas aufgeweckt in mir. Es ist, als ob meine kleine müde Hoffnung, die von Sorgen, Schwierigkeiten oder Ablenkungen wieder mal in Tiefschlaf versetzt wurde, schlagartig hellwach wird. So als hätte sie in der Tiefe längst gewusst, dass es allen Grund zu hoffen gibt, streckt sie sich ein letztes Mal und springt mit einem Satz aus dem Bett. Dazu finde ich die mögliche Herkunft des Wortes „Hoffen“ von „hoppen“: erwartungsvoll auf und ab hüpfen, ziemlich passend.
Das ist doch etwas, mein Hoffen kann also aufgemacht, aufgeweckt, vorsichtig wachgeküsst oder kräftig wachgerüttelt werden, damit es wieder mit erwartungsvoller Freude hüpfen kann. Und offenbar hat der Heilige Geist bei diesem „Weck-Service“ zahlreiche Mitarbeiter. Ich erlebe immer wieder, dass andere Menschen „Hoffnungswecker“ sind. Menschen, die mir helfen, weiter oder tiefer zu sehen, wie der Matrose, der im Ausguck des Schiffes sitzt und „Land in Sicht“ brüllt, während ich nur Wellen sehe. Menschen, die erfahren haben, dass das „Dahinter“ gar nicht weit weg ist. Menschen, die beharrlich und manchmal trotzig an der Hoffnung festgehalten haben, obwohl das Leben scheinbar gegen sie war.
Hoffnungswecker waren für mich zum Beispiel alte Paul-Gerhardt-Worte wie: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“. Oder der gebrechliche alte Mann, der sich in einer Kirche in Jerusalem am Ende des Gottesdienstes mühsam erhob und mit brüchiger Stimme sagte: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Ich bezeuge heute mit meinem Leben, dass das die Wahrheit ist.“ Oder meine Eltern, denen ich immer abgenommen und abgespürt habe: Die meinen, was sie sagen und glauben, das ist ganz echt und stimmig und deckt sich mit ihrem Leben.
Ich habe neu entdeckt, wie gut es ist, dass wir uns als Gemeinschaft Woche für Woche verbünden in der Bitte, dass der Heilige Geist uns auftut. Dass er uns durchlässig macht für Seine Wirklichkeit. Für die Wirklichkeit Seiner Nähe, die uns näher ist, als jede Sorge und Angst es je sein könnten. Für die Wirklichkeit Seiner Liebe, die so viel größer, umfassender und kraftvoller ist, als wir es uns je ausmalen könnten. Für die Wirklichkeit Seiner Schönheit, die alles andere in den Schatten stellt. Damit wir wieder glauben, lieben und hoffen können.
Und wenn er auch uns immer mal als Hoffnungswecker gebrauchen könnte, wäre das auf jeden Fall noch ein Grund zum erwartungsfrohen Auf- und Ab-Hüpfen.
Eine Aufnahme von „Öffne meine Ohren, Heiliger Geist“ kann man auf dem Youtube-Kanal der St-Josef Gemeinde
in Bocholt hören