…So auch auf Erden – Das Wagnis des Vatergebets

Helmut Thielicke –

Die Bitte Dein Wille geschehe wird gebetet vor dem dunklen Hintergrund einer Welt, in der eben dieser Wille notorisch nicht geschieht. Oder sollte es Gottes Wille sein, dass die Völker sich gegenseitig vertilgen, dass Gotteshäuser und Wohnstätten in den Staub sinken? Oder ist das alles nicht vielmehr der Wille der Menschen, die es getan oder als Reaktion ausgelöst haben? Ist es also nicht gerade jener Wille, der zu den Ratschlüssen Gottes in Opposition steht, – und den Gott nun einmal an sich selbst dahingegeben hat, damit er sich austoben und an seinem eigenen Schrecken die tödliche Richtung seines Verlorenseins erkennen könne?

Aber wir brauchen nicht nach außen zu blicken: Ist alles das, was in unsern eigenen Herzen rumort – die hadernden Gedanken, der Sorgengeist und die Lebensangst, der Egoismus in unserem Verhalten zum Nächsten –, ist das nicht alles unser eigener Wille, der nicht müde wird, mit herrischem Griff die Türklinke nach oben zu drücken, wenn Gott an die Tore unseres Herzens pocht? Ist es nicht unser eigener Wille, bei dem wir im Grunde so unglücklich sind und von dem wir erlöst sein möchten, wenn wir rufen: Dein Wille geschehe?

Ruf aus der Tiefe

Diese Bitte ist ein Ruf aus der Tiefe. Darum gelten ihr auch alle Verheißungen Jesu, der sich so tief zu uns herabgeneigt hat. Sie stürzt uns in die Buße und in jene schwere, aber „göttliche Traurigkeit“, die nach dem Wort des Apostels direkt zur Seligkeit führt, aber als ein bitterer und dunkler Flur vorher durchschritten sein will.

Jesus gibt im Vaterunser sehr deutlich zu verstehen, dass Gottes Wille unter uns nicht geschieht. Er deutet das durch die besondere Form an, in der wir um diesen Willen bitten sollen: Er möge unter uns so geschehen, wie er im „Himmel“ geschieht. Damit meint er doch offenbar dies: Es möchten schon hier auf Erden Verhältnisse geschaffen werden, in denen der Wille Gottes ebenso selbstverständlich klar und eindeutig geschieht, wie das bei den Engeln im Himmel der Fall ist (Mt 18,10), die in der unaufhörlichen Anbetung Gottes aufgehen. Und während Jesus dies sagt, steht er selber vor uns als eine Gestalt, in der diese himmlische Vollendung wie in einem Spiegel widerstrahlt. Denn er allein hat ja von sich selbst sagen können: „Meine Speise ist die, dass ich den Willen tue meines Vaters im Himmel.“

Himmlische Speise

Dass wir das ja recht verstehen: Meine Speise ist das, den Willen des Vaters zu tun! Es ist nicht ein „Zusatz“ und ein „Nachtisch“, an den ich denke. Nein, es ist die Hauptmahlzeit meines Lebens, dass ich den Willen Gottes tue. Genau so wie ich von meinem täglichen Brot lebe, wie mein Herz und meine Augen und mein ganzer Leib ganz von selbst sich auf die Speise richten, so lebe ich vom Willen des Vaters, so bin ich mit allen Fasern meines Herzens auf ihn gerichtet. Jesus sagt das nicht mit dem Unterton: Seht, wie heilig und edel ich bin, dass ich mich bis dahin emporgeläutert habe! Seht, so hoch habe ich mich über meine und euer aller Natur erhoben!

Er will ganz im Gegenteil sagen: Das ist meine Natur, dass ich das tue. Mein ganzes Leben ist von einem einzigen Impuls beseelt, nämlich in ununterbrochenem Kontakt und im völligen Gleichklang mit dem Vater zu leben. Und genau so, wie das Stillen des Hungers einen Zustand der Befriedigung schafft, genauso kehre ich in den großen Frieden ein, wenn ich in diesem Gleichklang mit dem Vater lebe.

Und wir? Wir sperren uns gegen den Willen Gottes und alles, was er über unser Leben verhängt, als ob unser ganzes Glück davon abhinge, dass wir unseren Willen kriegen. Hier wird eine sehr tiefe Perversion sichtbar: Wir Menschen kommen nicht nur aus Schwäche immer wieder dahin, den Willen Gottes nicht zu tun, weil wir es sozusagen an der nötigen Energie des Gehorsams fehlen lassen, weil wir zu schlapp sind. Nein, die Krankheit sitzt tiefer: Wir leiden unter einer solchen Verirrung und Verzerrung unserer Wertmaßstäbe, dass wir es nicht anders wollen. Wir wollen zum Beispiel unter allen Umständen eine gewisse Wohnkultur, wir wollen beruflichen Erfolg, wir wollen unsere Familie glücklich sehen, – und wenn dann alles anders kommt, ballen wir die Faust und verfluchen den Willen Gottes, der uns unsere Konzepte verdirbt, oder geraten in Anfechtung und Zweifel, die Liebe droht zu erkalten. Und über dem Hadern werden wir immer leerer. Denn kein Mensch, auch wenn er es hundertmal hoffen mochte, ist noch je durch das Sich-Verbohren in den eigenen Willen glücklich geworden.

Ohne Kreuz keine Krone

So müssen wir auch die Gethsemanestunde verstehen, in der Jesus diese unsere Willenskrankheit auf sich nimmt und in der tiefsten Anfechtung seines Willens unser Bruder wird. Wer diese Geschichte auf ihre innersten Herztöne abzuhorchen versucht, muss feststellen: Als Jesus hier unter blutigem Schweiß mit seinem Schicksal ringt, das über Galgen und äußeren Bankrott führen soll, da kämpft er im Grunde mit Gott nicht darum, dass er doch noch „seinen eigenen“ Lebensplan akzeptieren möchte. Er kämpft nicht darum, dass er ohne Leiden, ohne das Sterben am Kreuz seine messianische Bestimmung erfüllen möge. Sondern er ringt darum, dass dieser eigene Wille eben nicht zwischen ihn und den Vater trete; er ringt darum, dass er den Kontakt mit dem Vater nicht verlieren möge. Und wenn dann schließlich dieser Seelenkampf mit dem Worte endet: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe, dann ist das wiederum nicht etwas, das er mit zusammengebissenen Zähnen sagt – so wie jemand das sprechen mag, der nach übermenschlichen Anstrengungen nun wider Willen kapitulieren muss, weil sich der Wille des Schicksals als stärker erwiesen hat als sein eigener. Sondern Jesus sagt das in einem seligen Gefühl der Befreiung: Gott sei Dank, dass ich mich deinem Willen überantworten darf. Gott sei Dank, dass ich nun alles Eigenwillige, alle eigenen Träume und Hoffnungen – „Wie hatte ich mir dies und das so schön gedacht!“ – über Bord werfen kann. Gott sei Dank, dass ich mich dir getrost in die Hand legen darf. Es ist deshalb nicht umsonst, dass am Schluss der Gethsemanegeschichte von dem Engel die Rede ist, der ihn stärkte. Es ist die Stunde des Engels und der Teilnahme an der verklärten Welt, es ist die Stunde einer sehr geheimnisvollen und verborgenen Seligkeit.

Liebe dein Schicksal?

Nietzsche rührt damit in seiner Weise das gleiche Problem an: „Du hältst es nicht mehr aus, dein herrisches Schicksal? Liebe es, es bleibt dir keine andere Wahl… versuche diesen Feind namens Schicksal zu lieben, da du ihn nicht umzubringen vermagst. Dann kommst du wenigstens wieder ins Gleichgewicht, und dann hört die innere Zerrissenheit auf!“

Als ob ich das könnte – als ob dabei etwas anderes herauskäme als Krampf und Komplexe und ein Verdrängungsprozess, bei dem ich alles Nichtfertigwerden mit den vielen Wunden meines Lebens beiseitezuschieben und mit der Maske des Lächelns darüber hinwegzusehen versuche. Das ist genau so, wie wenn ich einen Nichtschwimmer mit dem Tode ringen sehe und um Hilfe schreien höre, und ich rufe ihm zu: „Was, du hast Angst vor dem nassen Tod? Lass dein vergebliches Strampeln; liebe die Nässe und bejahe das Wasser.“ Gerade im Vergleich mit dieser „Schicksalsliebe“ Nietzsches sehen wir, welcher unsagbarer Trost es ist, dass ein Christenmensch beten darf: Dein Wille geschehe.

Jesus zeigt mir, wie ich meinen Vater bitten darf, dass sein Wille geschieht – auch über mein eigenes Bitten und Verstehen hinweg –, und wie ich also betend mein Schicksal in seine Hände legen kann. Jesus hat zu keinem Blinden, Elenden und Lahmen gesagt: Du sollst deine Krankheit, deinen Aussatz und die Nacht deiner Augen lieben, dann wird dein Stöhnen aufhören. Er hat auch nicht zur Mutter des Jünglings von Nain gesagt: Liebe dieses entsetzliche Loch, das der Tod da in dein Leben gerissen hat, dann werden deine Nerven sich wieder beruhigen und deine Augen trocken werden. Sondern er legt den Elenden und Gepeinigten die Hand auf als ein Zeichen, wie der Vater gegen sie gesinnt ist, und dass ihm ihre Schmerzen nahegehen und er mit seiner Hilfe nahe ist. Genau das gleiche gibt er uns nun in der Bitte zu verstehen: Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden.

Das Herz des Vaters

Denn sie bedeutet: Alles, was euch widerfährt an Liebem und Leiden, muss am Herzen eures Vaters vorüber. Dieses Herz hat auch im größten Kriegsgetümmel Gedanken des Friedens mit euch. Und wenn er gar zu schrecklich und unverständlich, zu grausam und unbegreiflich mit euch zu verfahren scheint, so soll euer geängsteter Blick sich erholen und zur Ruhe kommen, indem ihr auf mich seht: In meinem Erbarmen, in meinem Heilen und Helfen und Bei-euch-Sein spricht sich dieses Herz am unverkennbarsten aus. In diesem Licht, in diesem Christuslicht wollen auch die dunklen Bezirke eures Lebens gesehen sein. Und nur weil ihr ihn hier seht, ja, weil ihr ihn hier so sehen dürft, wie er ist, darum könnt ihr ihn nun lieben – könnt ihr ihn wiederlieben. Darum dürft ihr auch nachträglich und vielleicht in langen Jahren des inneren Wachsens das bejahen lernen, was euch nun so bitter getroffen hat. Denn die Hände des Vaters verwandeln und heiligen auch die Schicksale, die ihnen entquellen. Wer mit dem Vater versöhnt ist, ist auch mit seinem Schicksal versöhnt. Für wen der Wille Gottes seine Schrecken verloren hat, dem ist auch die Nacht des dunkelsten Lebenstales erleuchtet und gespensterlos geworden.

Sieghaftes Überwinden

Jetzt sind wir wohl so weit, dass wir den Ton der Freude und der sieghaften Überwindung spüren in dem Satze: Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden. Dieser Satz ist nicht aus der Resignation und aus dem Verzicht geboren. Sondern etwas Strahlendes haftet ihm an: Dieses Gebetswort Dein Wille geschehe ist ja zu niemand anderem als zum Vater gesprochen. Und wenn ich dessen Willen geschehen lasse, wenn ich mich ganz in diesem Willen verberge, so kann das nur den Frieden und die Erfüllung meines Lebens bedeuten. Denn es ist ja der Wille dessen, der hier in Jesus Christus vor mir steht und der mir verheißen hat, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen, und dass alles zu einem guten Ende kommen muss, wo sein Wille regiert.

Wo das geschieht, oder besser, wo wir das geschehen lassen, haben wir schon jetzt Anschluss an den Himmel und an die Heerscharen jener, die in himmlischen Liturgien Gott loben und lieben und deren Speise es ist, den Willen Gottes zu tun.

Nicht als ob diese blutgetränkte und schmerzensreiche Erde damit selber zum Himmel würde. Sie wird trotz aller Herrlichkeit der Schöpfung immer dunkle Täler, enge Straßen und Leid und Geschrei genug haben. Aber über diesem Dunkel ist der Himmel geöffnet, und die Schar derer, die alle Opposition überwunden haben und nun in der ungeteilten Liebe vollendet sind, schaut auf uns herab, die wir noch wandern und hadern.

Und indem wir die Lobgesänge derer hören, die mit dem Willen des Vaters eins geworden sind, beginnen auch wir getröstet zu werden. Es bringt das Hadern der Seele zur Ruhe und gibt uns statt aller dumpfen Ergebenheit in das Schicksal einen Vorgeschmack des Friedens Gottes.

Wenn wir dann sagen und es gleichsam nachsprechen: Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden, so ist das nichts anderes und nichts Geringeres als ein erstes, schüchternes Einfallen in den Lobgesang der himmlischen Heerscharen: Gottlob, dass wir alles, aber auch alles in deinen Willen begraben dürfen, unser Vater!

Helmut Thielicke, 1908-1986, wirkte als evangelischer Theologe u.a. in Tübingen und Hamburg. Die Ansprachen, aus denen obenstehender Text entnommen ist, wurden 1944/45 u.a. während der Bombennächte in Stuttgarter Gottesdiensten gehalten

Bild: ©Mark Stadler
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