Liebe Mitchristen,
„Es ist leichter, den gesamten Talmud zu lernen, als eine einzige menschliche Eigenschaft zu verändern.“ So sagte der legendäre Begründer des Chassidismus, Rabbi Israel Ben Elieser, genannt Baal Schem Tov (um 1700 bis 1760).
Dieses ernüchternde Wort stellt klar, dass wir nicht in der Lage sind, uns aus eigener Kraft zu erlösen, und als Christen gehen wir davon aus, dass der Mensch in seiner Gebrochenheit erlösungsbedürftig ist. Die Grundvoraussetzung für die Umgestaltung des Menschen in das Bild Christi ist sein Erlösungswerk. Doch wie zeigt sich dessen Wirksamkeit in meinem Leben?
Jeder von uns steht in der Gefahr, jemand zu werden, der nur sich selbst sieht. Das neue Leben fällt uns nicht in den Schoß, wir müssen uns „von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all unserer Kraft“ dafür einsetzen. Vielen von uns mag das als ein allzu radikales Verlangen erscheinen, bedeutet es doch eine Umstellung des gesamten äußeren und inneren Lebens. Aber das soll es ja gerade! Wir wollen doch in unserem Leben Raum schaffen für den Heiland, damit er unser Leben in sein Leben umformen kann. Wir haben für so viele Dinge Zeit, für so viele Zerstreuungen, sollte es da nicht möglich sein, eine Morgenstunde heraus zu nehmen, in der wir uns sammeln und Kraft gewinnen, um den Tag davon zu bestreiten?
„Wir können nicht erneuert werden, wenn wir nicht die Demut haben, zu erkennen, was in uns der Erneuerung bedarf.“ (Mutter Teresa) Jesus wird uns heilen, wenn wir uns von ihm heilen lassen. In der Begegnung mit dem reichen Jüngling macht er uns deutlich, dass es nicht genügt, einfach nur anständig zu sein. Die charakterlichen Vorzüge des jungen Mannes sind nicht das Merkmal des neuen Menschen. Das Einhalten der Gebote reicht nicht, damit Christus in uns wächst und seine Fülle erreicht. Das Problem bei der Umgestaltung in das Bild Christi ist nicht, was wir vorweisen können, sondern was wir für uns selbst noch zurückbehalten wollen. Wir hängen an so vielem, das uns daran hindert, uns für Gottes Gaben vollkommen zu öffnen. Es ist ein weiter Weg von der Selbstzufriedenheit eines „guten Christen“, der seine Pflichten erfüllt, im Übrigen aber tut, was ihm gefällt, bis zu einem Leben an und aus Gottes Hand.
Änderung zu erfahren setzt voraus, dass wir uns dem Segen Gottes öffnen. Dafür muss sich der Mensch engagieren und sein Leben einsetzen: Mühet euch … um euer Heil mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt um seines Wohlgefallens willen (Phil 2, 12-13). In diesem Wort wird das geheimnisvolle Zusammenspiel des menschlichen Wollens und des göttlichen Handelns ausgedrückt. Dabei geraten wir vielfach in einen Ringkampf mit Gott und erfahren die unmittelbare Berührung von Ihm. Er packt uns an, schüttelt uns, denn nur so kommen wir ins Leben. Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn (1 Mo 32,27), das sagt kein hochmütiger, sondern ein gedemütigter und dadurch demütig gewordener Mensch. Jakob ist ein Mann, der weiß, dass sein Leben der Erneuerung bedarf. Er lässt es zu, dass Gott ihm auf die Pelle rückt. Wir wissen, dass Jakob den Segen von seinem Vater erschlichen hatte, und auch danach erhielt er keinen vollen Segen mehr. Womöglich will Jakob seinen Angreifer im Kampf am Jabbok gerade daher erst loslassen, wenn er endlich erhalten hat, was er sein Leben lang wollte: Segen, vollen, ganzen, göttlichen Segen. Dafür setzt er noch einmal alles auf Spiel. In einem Kampf mit Gott riskiert er sein Leben. Gott lässt es zu, dass Jakob ihm seinen Segen abringt. Jakob bleibt dabei nicht unversehrt; er hinkt fortan an der Hüfte und bleibt ein vom Gotteskampf Gezeichneter (vgl. Gen 32,32), aber auch als ein im Gotteskampf Gesegneter. So kann er seinen reichen, von Gott empfangenen Segen an andere weitergeben.
Der hinkende Gang am Ende des Kampfes ist positiv zu verstehen. Immer, wenn ich mich existenziell auf Gott einlasse, werde ich anders herausgehen als ich hineingegangen bin. Mein blanker Egoismus wird minimiert, indem ich in diesem Ringen mit dem Du Gottes anders werde. Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn ist Ausdruck des Dranbleibens. Der Christ muss ein geistliches Leben einüben, damit er innerlich reifen kann. Der heilige Franziskus erinnert uns daran: „Jeder von uns ist das, was er in Gottes Augen ist – nicht mehr und nicht weniger. Wir sind alle berufen, Heilige zu werden.“ An dieser Berufung ist nichts Außergewöhnliches. Wir sind alle nach Gottes Ebenbild geschaffen worden, um zu lieben und geliebt zu werden. Das ist es, was Gott will: eure Heiligung (1 Thess 4,3). Sein heiligstes Herz ist von einer unstillbaren Sehnsucht erfüllt, uns auf dem Weg zur Heiligkeit voranschreiten zu sehen.
Die vorösterliche Zeit gibt uns reichlich Gelegenheit, täglich unseren Entschluss zu erneuern, uns zu größerem Eifer anzuspornen, so wie am ersten Tag unserer Bekehrung. Wir können gar nicht oft genug beten: Herr Jesus Christus, sprich zu meinem Herzen, verändere mein Leben und mache mich heil. Amen. (Leanne Payne)
Erfahren wir so, dass die Gnade Gottes für uns beständig da ist. Als Christen leben wir immer unter den besten Bedingungen. Wir können den Kampf schon deshalb nicht verlieren, weil Jesus ihn für uns schon gewonnen hat. Am Kreuz hat er uns erlöst. Sein Ostersieg ist der entscheidende für unser Leben. Die Fastenzeit hilft uns, Ihm zu folgen. Er erwartet uns schon voll Freude am Ziel. Sein Siegespreis ist die Erlösung zum ewigen Leben. Sich dafür in der österlichen Bußzeit etwas ins Zeug zu legen, lohnt sich.
Mit frohen Grüßen im Blick auf Ostern bleibe ich herzlich mit Ihnen verbunden,
Ihr
Rudolf M. J. Böhm
Greifswald, den 17. März 2022