Als Kind war ich fest davon überzeugt, dass der Familienhund mehr Anspruch auf die Liebe meines Vaters hat als ich, er war ja schon ein Jahr vor mir da gewesen. Warum ich das geglaubt habe, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Mein Vater war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, aber er hat mich ganz sicher nicht schlecht behandelt. Ähnliches gilt für meine Mutter. Sie hat sich sicher Mühe gegeben, war aber nicht in der Lage, Gefühle und Zuneigung in einer Weise zu vermitteln, die bei mir angekommen wäre.
Mit 19
Nach dem Abitur will ich nur weg, möglichst weit. Ich gehe als Au-Pair nach Schottland für ein Jahr. Beim Abschied weint meine Mutter. Ich verstehe überhaupt nicht warum.
Mit 23
ziehe ich ans andere Ende von Deutschland. Ich wünsche mir so sehr eine Mutter, die erwachsen ist, an der ich mich reiben, mit der ich mich auseinandersetzen kann. Darum suche ich mir ältere Freundinnen, die diese Rolle ein Stückweit übernehmen. Das hat aber auch seine Tücken und führt in eine sehr schuldbeladene Verstrickung.
Mit 25
Mein Vater ist schwer an Krebs erkrankt, der Abschied unvermeidlich. 14 Tage vor seinem Tod fragt er, der sich immer Atheist nannte, mich, die Kirchgängerin, ob er befürchten müsse, in die Hölle zu kommen. Ich bin davon überzeugt, dass jedem Suchenden jederzeit Gnade widerfahren kann. Sein fragender Blick sagt mir, dass ihm nach seinem Tod die Herrlichkeit Jesu in einer Weise begegnen wird, der auch er nicht widerstehen konnte. Das tröstet mich ungemein.
Mit 44
Zum siebzigsten Geburtstag unserer Mutter bereiten wir Schwestern einen Rückblick auf ihr Leben vor. Wir lassen uns auch von älteren Verwandten erzählen, was sie erlebt hat. Wir beginnen zu verstehen, warum sie nicht in der Lage war, Gefühle zuzulassen, geschweige denn auszudrücken. Mit neun Jahren, wenige Monate nach Kriegsende, verlor sie die eigene Mutter. Der Vater war in Kriegsgefangenschaft und das Nesthäkchen stand auf einmal mehr oder weniger alleine in der Welt. Zwei Jahre lang wurde sie in der Nachbarschaft rumgereicht, bis endlich eine Tante in der Lage war, sie aufzunehmen. Dort blieb sie drei Jahre, bis der Vater aus der Gefangenschaft heimkehrte. Sich damit auseinanderzusetzen, auch im Gebet, führt bei mir zu tiefem Mitgefühl (inzwischen bin ich selber Mutter) und Verständnis.
Mit 58
Meine Mutter zieht in ein Altersheim, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Sie ist schwach geworden und sehr bedürftig. Wenn wir telefonieren, sagt sie „mein Schatz“ und sie meint mich. Ich könnte heulen. Jetzt hat es seine Richtigkeit, dass sie das „Kind“ ist und ich erwachsen, jetzt darf das sein. Wenn ich in mich reinhorche, ist da nichts mehr an schweren Gefühlen, die haben sich einfach verflüchtigt. Das ist ein Geschenk, für das ich sehr dankbar bin. Heute kann ich aus vollem Herzen sagen: „Ihr seid die richtigen Eltern für mich.“
Birte Undeutsch gehört zum Redaktionsteam der OJC