Mitgefühl setzt Stille voraus

Anregungen für das seelsorgerliche Gespräch

„Danke, dass Sie uns nie von Gott erzählt haben, doch dank Ihnen weiß ich jetzt, dass es ihn gibt.“ In dem Film „Sonnenaufgang über Kalkutta“ sagt das eine Studentin am Ende des Semesters ihrem Professor.

Das hat mich beeindruckt.

In die gleiche Richtung geht die ­Fest­stellung: „Lebendige Christen sind für die ­Menschen von heute die wertvollste Bibel.“ Sie sind ­Wegweiser zu Gott, indem sie in Menschen Hoffnung wecken. Wort und Tat sind bei glaubwürdigen Christen eng miteinander verknüpft. Sie sind Hoffnungslichter, die aus seelischen Engpässen herausführen und
das Leben anderer mit Gott verknüpfen.

Vor über 20 Jahren hatte ich ein mich sehr beschämendes Erlebnis. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken und vor mir selbst davongelaufen – aber wohin? Ich versteckte mich einen ganzen Tag lang in meinem Arbeitszimmer. Durch eine glückliche Fügung Gottes begegnete mir tags darauf der Priester meiner Gemeinde. Ohne zu überlegen bat ich ihn um eine Aussprache. In unserer noch am gleichen Tag stattfindenden Begegnung goss ich in einem langen Redeschwall den ganzen Kübel meiner Enttäuschungen über ihn aus. Als ich fertig war, entstand eine peinliche Stille. Nach einer Weile schaute ich auf und mir begegnete ein unerwartet freundlich-warmherziger Blick, verbunden mit der Frage: „Bist du gekommen, um mir meine Geschichte zu erzählen?“. Überrascht horchte ich auf. Er erzählte mir in gleicher Ausführlichkeit seine Geschichte. Tief berührte mich, dass er all das von mir Gehörte selbst auch kannte. Mit jeder seiner Äußerungen wurde es in mir heller. Die Erfahrung, dass jemand mit mir mitfühlen kann und sich bedingungslos zu mir stellt, ließ mich innerlich wiederaufleben. Obwohl die Umstände immer noch dieselben waren, hatte ich wieder Mut, meinen Mitmenschen unter die Augen zu treten und einen Neuanfang zu machen.

Diese Erfahrung gehört für mich zu den tiefsten seelsorgerlichen ­Lektionen meines Lebens: Eines der wirksamsten Gegenmittel gegen Scham ist Mitgefühl. Mitgefühl oder Empathie ist die Bereitschaft, sich auf die Erfahrungen einer anderen Person einzulassen, ohne den Weg abzukürzen. Liebevolle Begleitung konzentriert sich darauf, die Person so anzunehmen, wie sie ist und sie in ihrem Lebenskampf zu begleiten. Dabei wird nichts überstürzt, keine Fristen gesetzt und keinerlei Druck ausgeübt.

Oft neigen wir dazu, Menschen in ihrer Not mit fertigen Antworten oder frommen Floskeln abzufertigen. „Bring es zu Jesus“ oder „Lass es los“ oder „Bete einfach um ein Wunder“ oder „Wenn du deinem Feind einfach vergeben würdest, wärst du nicht so verbittert.“ Diese Aussagen sind nicht an sich schlecht. Wir können unsere Kämpfe bei Jesus loswerden, Ihn um ein Wunder bitten und Vergebung hilft selbstverständlich. Ein Problem ist, wenn solche Sätze uns ersparen wollen, uns auf den Schmerz des Gegenübers einzulassen.

Eine andere Art, den anderen in seinem Schmerz zu umgehen, ist, etwas „Schönes“ oder „halb so Schlimmes“ daraus zu machen. Wir versuchen um die Tragödie einen Goldrahmen zu basteln: „Mein Mann hat mich verlassen.“ – „Na ja, wenigstens halten deine Kinder zu dir.“ Besser gewesen wäre etwas wie: „Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, aber ich bin so froh, dass du es mir gesagt hast. Willst du mir erzählen, was du gerade durchmachst?“ Wenn jemand durch schmerzliche Ereignisse in seinem Leben in die Knie gegangen ist, erreichen wir ihn erst dann, wenn wir uns zu ihm hinknien. Auf Knien zuzuhören ist die beste Art und Weise, wirklich zuzuhören. Dann begegnen wir dem anderen nicht mit der Haltung, die meint, schon alles zu wissen, der schon alles klar ist. Vielmehr öffnen wir uns für das Geheimnis des anderen, bereit, demütig zu empfangen, was er uns anvertrauen will. So mitfühlend übernehmen wir die Perspektive des anderen und erkennen sein Erleben der Situation, ohne sie zu beschönigen oder zu beschwichtigen.

Jesus zeigt uns seine Verwundbarkeit am Kreuz. „Ganz herunter gekommen“ schafft Er dort für jeden von uns einen persönlichen Platz in der zärtlichen Gemeinschaft seines liebenden Herzens. In ihm erkennen wir einen Mann voller Mitgefühl, der sich das Schicksal von uns Menschen auf unvergleichliche Weise nahegehen ließ. In Mk 6,34 heißt es: Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Mitleid geht im Verständnis der lateinischen Sprache aus dem Inneren hervor, als ein Körperempfinden in den Eingeweiden (unterhalb des Bauchnabels), lat.: Viscera misericordiae – die Eingeweide der Liebe. Wo von Mitleid gesprochen wird, können wir lesen: Da fuhr es ihm in die Eingeweide; da ging es ihm durch und durch; da wurde er von Mitgefühl überrollt.

Wer Mitgefühl zeigen will, braucht ein dem Anderen zugeneigtes Herz. Gemeint ist damit weder sentimentales Gehabe noch eine therapeutische Methode. Es beruht auch nicht einfach auf einem guten Vorsatz. Echtes Mitgefühl setzt Stille voraus – Raum für Gottes liebendes Einströmen, das den Betenden im Geist der Liebe entflammt. Mutter Teresa schrieb: „Jesus hat uns beten gelehrt; ebenso hat Er uns gelehrt, demütig und sanftmütig von Herzen zu sein. … Menschlichkeit und Gebet wachsen in dem Maß, in dem Ohren, Geist und Zunge in der Stille mit Gott leben, denn Gott spricht in der Stille des Herzens.“ Meiner Erfahrung nach ist es Jesus am liebsten, wenn wir uns mit Ihm zusammen den Menschen zuwenden, die uns brauchen. Ihn in jedem Menschen zu sehen ist der größte Dienst, den wir Ihm erweisen können – Hoffnungsweitergabe schlechthin.

Bild: © Christus und Johannes | Bodensee, um 1320/30 | Frauenkloster St. Martin, CH-Hermetschwil | Foto: Martin Lehner
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