Muss das sein? – Vom Sinn des Alltäglichen

Os Guinness –

Es ist einfach lächerlich zu behaupten, dass all unsere Arbeit aufregend, erfüllend und gewinnbringend sein muss. Viele Arbeit ist Plackerei, und es gibt kein Entrinnen. Sie muss einfach getan werden. Fußböden müssen gereinigt werden, Windeln ­gewechselt, Müll eingesammelt, und Verbrecher müssen bestraft werden. […] „Einer muss es ja tun“, sagen wir oft von der Dreckarbeit, und tun unser Äußerstes, damit wir es nicht sind. […] Nicht nur, dass in unserer modernen Welt viel dafür getan wird, dass solche Schinderei vermieden werden kann, zur Entscheidungsfreiheit und Abwechslung hat sich nun auch noch die Bequemlichkeit gesellt, um so die „heilige Dreieinigkeit“ des Lebensstils der Konsumgesellschaft zu bilden. Mit Slogans wie „Instant“-Dies und „Benutzerfreundlich“-Das wird von uns alles in eine Verpackung gewickelt, die frei von Sünde, Schmerz, Schmutz und Mühe ist, sodass jeder einigermaßen Begüterte eine Lebensweise erreichen kann, die die Härte der Arbeit verdeckt. Und dabei wächst eine gefährliche Kombination heran: Unangenehme Dinge treten in den Hintergrund, wodurch die Ablehnung gegenüber diesen Realitäten weiter wächst. Das Ergebnis ist unsere moderne Anspruchsmentalität. Wir sind zu wichtig, um das Alltägliche zu schätzen, und zu vornehm, um uns mit „niedrigen Arbeiten“ selbst abzugeben.

Im Kaleidoskop des modernen Lebens entdecken wir noch ein weiteres Merkmal. Wir sind unab­lässig gezwungen, Dinge aus Gründen zu tun, die nur zeitgemäß, begrenzt und unbefriedigend sind. Statt Dinge aufgrund ihrer eigenen Bedeutung zu tun – ihrem Wert an sich –, tun wir sie wegen ­ihrer Nützlichkeit – aufgrund ihres Wertes für unsere Selbstdarstellung, unsere Erfüllung, unseren Nutzen oder unseren Bekanntheitsgrad. […]

Berufen

Die Wahrheit der Berufung hebt sich gegen diese Einstellungen ab, indem sie uns auffordert, das Leben anders zu sehen und zu behandeln. Das Alltägliche zu schätzen und das Nichtige hoch­zuheben sind zwei verschiedene Dinge. Aber die Berufung hilft uns bei beiden auf bezeichnende Art und Weise. Zunächst einmal: Plackerei für uns selbst oder für ein anderes menschliches Publikum bleibt immer mühevoll. Aber Plackerei für Gott wird erhöht und verändert. Hudson Taylor, ein großer Missionspionier in China aus dem 19. Jh., pflegte zu sagen: „Eine kleine Sache ist eine kleine Sache, aber Glaube in einer kleinen Sache ist eine große Sache.“ Etwas Ähnliches sagte auch Mutter Teresa: „Ich tue keine großen Dinge. Ich tue kleine Dinge mit großer Liebe.“

Dieses Thema ist ebenfalls schon im Verständnis von Berufung im 17. Jh. vorherrschend. John Cotton betonte z. B., dass die Berufung einen Menschen „zu den einfachsten und schwierigsten und gefährlichsten Dingen ermutigt, zu denen seine Berufung ihn führen und denen sie ihn aussetzen kann“. Jemand, der seinen Verstand nach der Welt ausgerichtet hat, „weiß, wie er sich ihr unterordnen muss“. Aber für den Nachfolger Christi „gibt es keine Arbeit, die zu schwer oder zu leicht wäre“, denn „welche Plackerei kann zu leicht für mich sein, als dass ich sie für Gott nicht gerne täte?“ […] Auf einer ganz anderen Ebene und auf einer Weltbühne anderer Art hat dasselbe Bewusstsein auch die Staatskunst berührt. 1884 verließ General Charles Gordon zum Beispiel Europa und ging in den Kongo, um dort König Leopold von Belgien zu unterstützen. Seine Freunde waren darüber entsetzt. Einer schrieb: „Ich denke, du hast jetzt genug gehabt von dem heißen Klima, dass man eine Leber braten könnte, und die Welt scheint nicht mit dem klaren Überblick ausgerüstet zu sein, der es rechtfertigen würde – wenn ich wagen darf, dies zu einem alten Freund zu sagen –, dass sich unser bester Mann am Äquator sein eigenes Grab gräbt.“ Gordon jedoch ließ sich nicht davon abbringen. Schmeichelei und Ruhm bedeuteten ihm nichts. Wenn diese Aufgabe Teil seiner Berufung war, dann war ihre Stellung und ihr wahrscheinliches Ergebnis irrelevant. Früher hatte er einmal an einen anderen Freund geschrieben: „Wenn A große Länder regiert, oder B den kleinsten Ort belagert, sind doch beide dieselbe Realität, denn Christus betrachtet Ereignisse mit dem gleichen Respekt, sei es wie A regiert, oder wie B kleine Dinge tut.“ Nicht was er tat, sondern für wen er es tat, machte den Unterschied.

Verändert

Zweitens verändert die Berufung Dinge, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf die Sachen richtet, die unterhalb von Gott stehen. Viele Religionen, wie z. B. der Buddhismus oder die Gnosis, leugnen die Welt. Wie sie sie sehen, bedeutet Materie Verfall, Ort bloßer Einschränkung und den Tod. Der christliche Glaube dagegen hat eine doppelte Sichtweise – er bejaht die Welt und leugnet sie zur selben Zeit. Auf die eine Art betrachtet ist die Welt verdorben und von der Zerstörungswut des Bösen beherrscht. Aber auf die andere Art betrachtet wurde die Welt von Gott selbst gut gemacht und für gut erklärt. Trotz des Ruins sind Realität und Güte von Gottes Schöpfung dauerhaft und unveräußerlich.

Dorothy Sayers übertrug diese Vision von der Schöpfung auf die Arbeit. Die christliche Sichtweise, schrieb sie in Glaube oder Chaos, widerspricht unmittelbar der aktuellen Tendenz, die Arbeit mit einer lukrativen Anstellung zu identifizieren und nur darum zu arbeiten, um Geld zu verdienen oder etwas anderes zu tun. Nach der heutigen Sichtweise „praktizieren Ärzte nicht in erster Linie, um das Leiden zu lindern, sondern um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. … Anwälte akzeptieren Fälle nicht, weil sie eine Leidenschaft für die Gerechtigkeit hätten, sondern weil der Anwaltsberuf ihnen ihr Leben ermöglicht.“ Sayers bemerkt, dass die Folge ein moderner Irrglaube ist. „Der Trugschluss besteht darin, dass die Arbeit nicht mehr Ausdruck der kreativen ­Energie des Menschen im Dienste der Gesellschaft ist, sondern nur etwas, das er tut, um Geld und Freizeit zu bekommen.“ Für die berufene Person hingegen sollte die Arbeit so nah wie möglich an der Erfüllung unseres Wesens und dem Ausdruck unserer gottgegebenen Kreativität sein, „die ­Arbeit soll so gestaltet sein, dass ein Mensch sie mit ganzem Herzen tut, und dass er sie um der Arbeit willen tut.“ C. S. Lewis wendet eben diese Lehre auf die Natur an. Er ist bekannt für seine tiefgehende Aussage in Das Gewicht der Herrlichkeit, worin er die Sichtweise der Christen referiert, „dass es keine normalen Menschen gibt“. „Noch nie hat jemand mit einem rein Sterblichen gesprochen. Nationen, Kulturen, Künste, Zivilisationen – diese alle sind sterblich, aber ihr Leben ist ver­glichen mit dem unseren das Leben einer Mücke. Aber es sind Unsterbliche, mit denen wir Spaß ­haben, arbeiten, die wir heiraten, vor den Kopf stoßen und ausbeuten – unsterblicher Schrecken oder immerwährende Pracht.

Unnormal

Es gibt keine normalen Dinge. In Briefe an Malcolm spricht Lewis von seiner Schöpfungserfahrung in all ihrer Normalität, Alltäglichkeit und Nichtigkeit. Eine Reihe Kohlköpfe, eine Katze auf dem Bauernhof, das faltige Gesicht einer Mutter, ein Ziegeldach, ein einzelner Satz in einem Buch – jedes einzelne kann man als winzige Offenbarung Gottes, des Schöpfers, betrachten. So wie Sonnenstrahlen durch einen dunklen Wald hindurch­brechen, genauso wirken Teile der Schöpfung, die als das gesehen werden, was sie sind, nämlich als „Lichtstrahlen Gottes“ in diese Welt. Lewis schrieb, „ich habe versucht, jede Freude zu einem Kanal für Bewunderung zu machen“. „Ehre sei Gott für die kleinen, unscheinbaren Dinge“, schrieb Manley Hopkins, und in einer seiner Predigten sagte er etwas ganz Ähnliches: „Wer die Hände im Gebet erhebt, gibt Gott die Ehre, aber ein Mann mit einer Mistgabel in der Hand oder eine Frau mit einem Schmutzeimer geben ihm ebenfalls die Ehre. Er ist so groß, dass alle Dinge ihm die Ehre geben, wenn wir das so wollen.“

Die Kluft zwischen dieser christlichen und der heutigen Sichtweise ist aber so groß geworden, dass wir uns ihre Größe erst einmal klarmachen müssen, bevor wir versuchen können, sie wieder zu schließen. Die christliche Sichtweise kehrt immer wieder zurück zu der Verwurzelung und dem inneren Wert der Dinge, so wie sie sind; die heutige Sichtweise hingegen ist selten so zufrieden. […] George Macdonald mahnte in Phantasten zur Vorsicht: „Ich habe gelernt, dass wer ein Held sein will, schwerlich ein Mann sein kann; dass aber wer nur seine Arbeit tun will, sich seiner Männlichkeit sicher sein kann.“ Oder wie er in Die Schatten schrieb, ist das Kennzeichen einer wahren Vision von den Dingen, dass „anstatt normale Dinge als Alltäglichkeiten zu sehen, wie es eine falsche Vision gemacht hätte, den normalen Dingen das Wunderbare, das in ihnen steckt, zu entlocken“.
Hört sich das nicht gefährlich nach einer Verherrlichung der Amateurhaftigkeit an? Stimmt. Zu unserer Schande haben wir modernen Menschen das Wort Amateur genommen, es dem Professionalismus und hervorragenden Eigenschaften ­gegenübergestellt und es so in eine Sache aus lauwarmen Motiven und schäbigen Ergebnissen verkehrt. Aber das Wort Amateur bedeutet eigentlich „Liebhaber“. […]

Gehorsam

Drittens verwandelt die Berufung die Dinge, indem sie uns daran erinnert, dass Plackerei ein Teil des Preises ist, den wir für unsere Jüngerschaft zu zahlen haben. Niemand hat über dieses Thema häufiger und unverblümter geschrieben als ­Oswald Chambers. Immer wieder sagt er mit Nachdruck, dass „Strapazen der Prüfstein des Charakters sind“. Wir sehen immer nur auf die großen Dinge, die es zu tun gilt, Jesus aber nahm ein Handtuch und wusch seinen Jüngern die ­Füße. Wir glauben, dass der geeignete Platz für uns auf dem Gipfel eines Berges mit der besten Aussicht ist – aber er schickt uns wieder zurück ins Tal. Wir möchten reden und handeln aus den seltenen Momenten der Inspiration – er fordert unseren Gehorsam in die Routine, das Unsicht­bare und den Undank. Unsere Vorstellung von uns selbst ist der große Augenblick und die schweigende Menge – seine Vorstellung von uns sind die gewöhnlichen Dinge, wenn das Rampenlicht erloschen ist. Schließlich fährt Chambers fort:
„Für einen impulsiven Menschen ist es leicht, auf dem Wasser zu gehen, wenn er keine Angst hat; aber auf festem Boden als Jünger Jesu zu leben, ist etwas ganz anderes. Petrus ging auf dem Wasser, um zu Jesus zu kommen, aber auf dem Land folgte (er) ihm nach von ferne“. Wir brauchen die Kraft Gottes nicht immer, um Krisen zu überstehen – im Allgemeinen können unsere mensch­liche Natur und unser Stolz die Strapaze glänzend bewältigen. Aber wir können nicht jeden Tag vierundzwanzig Stunden als Christen leben ohne die übernatürliche Kraft, die Gott uns gibt, wenn wir anstrengende und immer gleiche Arbeit tun und ein normales, unscheinbares, unbeachtetes Leben als Jünger Jesu führen sollen. Wir sind zutiefst überzeugt, wir müssten für Gott etwas Besonderes tun – aber das stimmt nicht. Wir müssen im normalen Alltag ungewöhnlich sein, auf der Straße und unter gewöhnlichen Menschen Gott gehorchen – und das lernt man nicht in fünf Minuten.“
[…]

Für diejenigen, die dem Ruf Gottes folgen, hat bei Gott alles seine eigene Bedeutung, obwohl es nicht an uns ist, die endgültige Beurteilung vorzunehmen. Wenn es jemals an uns sein sollte, dann kommt die Beurteilung von dem „gut“ des Rufers. Aber vor dem möglichen „gut“ besteht unsere Aufgabe heute darin, sie gut zu machen – indem wir Menschen, Dinge und die Arbeit um ihres und seines Willens lieben. Wie auch Rudyard ­Kipling in L‘Envoi über den Himmel der Künstler schrieb: „Und nur der Meister soll uns loben, und nur der Meister soll uns tadeln; und niemand soll für Geld arbeiten, und niemand soll für Ruhm ­arbeiten; sondern jeder für die Freude an der ­Arbeit, und jeder für sich allein, soll die Dinge zeichnen, wie er sie sieht, für den Gott der Dinge, wie sie sind!“

Os Guinness, geb. 1945, ist christlicher Apologetiker und Gesellschaftskritiker

Aus: Von Gott berufen – aber zu was? © 2000 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH, D-71088 Holzgerlingen, S. 228-235 (leicht gekürzt).

Bild: ©2016 Helior / photocase
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