Markus Müller –
Geheimnisvoll, verdrängt, inszeniert, ignoriert, verleugnet, aus unserem Leben und unserer Zeit und unserem Miteinander ausgeklammert, eine stumme Parallelwelt: der Tod. Sterben, das ist eine Sache für andere. Unser Kopf allerdings erinnert uns in besonderen Situationen daran: Auch ich werde sterben. Alle müssen sterben. Er, der Tod, kommt. Die Frage ist: Wie wollen, besser, wie dürfen wir es mit ihm halten?
Fragen zum Leben
Noch ist es nicht allzu lange her, dass Tote einige Tage im „Totenstübchen“ aufgebahrt waren. Man konnte den Toten besuchen und sich von ihm verabschieden. Er, sein Leben, sein Sterben und sein Tod gehörten zu uns. Und ein Jahr lang hat man Schwarz getragen. Aber einige Jahre später schienen wir den Drang zu spüren, Sterben und Tod auszusondern. Wir wollten sie nicht wahrhaben und als Wirklichkeit nicht ernst nehmen.
Es ist und bleibt so: Mit dem Tod wird dem Menschen viel, sehr viel zugemutet. Sterben und Tod sind eine Bürde, nichts, was mit links zu bewältigen ist. Sogar Jesus weinte beim Tod von Lazarus. Umso mehr gilt: keine billige Romantik, kein billiger Trost, kein billiges „Ist-ja-nicht-so-schlimm“. Irgendwie muss es einen dritten Weg geben, weder eine angstgetriebene Exkommunikation noch eine sentimentale Inklusion. Sterben als zwar ein herber, aber schlichter und selbstverständlicher Teil des Lebens: Warum eigentlich nicht?
Könnte es doch sein, dass sich im Sterben zeigt, was und wie das Leben war und ist?
Haben wir möglicherweise Angst vor dem Leben, wenn wir Angst vor dem Sterben haben?
Haben wir hinreichend und früh genug gelernt, unser Leben von der Zukunft her zu sehen?
Haben wir möglicherweise vergessen, den Blick immer ein bisschen mehr auf Künftiges als auf Gegenwärtiges oder Vergangenes zu richten?
Haben wir beim Loslassen genügend eingeübt, stets das vor Augen zu haben, was wir gewinnen?
Solche und ähnliche Fragen mögen vertraut klingen oder völlig abwegig sein. Es sind Fragen des Lebens, heute von Bedeutung. Wer sie ernst nimmt, wird nicht nur im Leben, sondern auch im Sterben gewinnen. Leben ist das Thema. Sterben und Tod haben darin ihren Platz, ihre Heimat, ihr Zuhause.
Die ersten Christen feierten den Sterbetag als den Geburtstag zum Leben. Für sie war der Tod Eingang ins Leben. Ein neuer Raum durfte betreten werden. Wieso sind wir hier derart zögerlich, wo wir genau dies doch gerne tun? Gerade da, wo Schwachheit, Leid, Schmerz uns ganz nahekommen, wird uns Gott als Gott allen Trostes vorgestellt (2 Kor 1,3). Dieser Trost ist notwendig. Allerdings nicht von der billigen Art, sondern Trost als Aufzeigen eines Weges angesichts scheinbarer Aus-Weg-Losigkeit. Das ist tragende Hoffnung, sogar in schlimmster, manchmal notvollster Stunde des Lebens.
Fragen zum Tod
Hatten Sie schon einmal den Mut, ohne besonderen Anlass einfach über einen Friedhof zu spazieren und zu lesen, was auf den Grabsteinen eingraviert ist? Herr X, Frau Y: Geboren am …, gestorben am … – Das ist das eine, die äußere Wirklichkeit. Dann aber lesen wir da und dort Sätze wie: „Hier ruht im Frieden“, oder: „Jesus ist unsere Hoffnung“, oder: „Am Ziel des Glaubens angekommen“. Im Weitergehen kommen Fragen auf:
Stimmt das alles wirklich? Ruht er (oder sie) wirklich im Frieden, ist er wirklich in der Hoffnung zu Hause, ist sie wirklich am Ziel des Glaubens?
Während man so vor sich hin sinniert, meldet sich eine weitere Frage zu Wort: Wenn es tatsächlich so sein sollte, müsste dann dem Kommenden gegenüber nicht eine völlig andere Haltung entstehen? Ist es tatsächlich angemessen, den Tod bloß als Erzfeind zu betrachten? Wäre es nicht vielmehr naheliegend, so etwas wie eine Versöhnung mit dem Tod zuzulassen?
Im 1. Korintherbrief, im großen Auferstehungskapitel der neutestamentlichen Briefe, wird uns der Tod als der letzte Feind beschrieben (15,26). Er ist mit seiner ganzen destruktiven Wucht am Anfang unserer Weltgeschichte in diese Welt eingedrungen. An vielen Stellen und zu vielen Zeiten hat er seine ganze Macht entfaltet, immer neu auf schreckliche, feige, lügnerische, menschen- und schöpfungsentwürdigende Art und Weise. Ihm aber, so die Zentralbotschaft des Evangeliums, hat Christus die Macht genommen. Die Tür in den Raum des Lebens ist offen, und hier hat, das ist die gute Nachricht, keine Macht des Bösen, kein Teufel, kein Satan mehr Zutritt. Dieser Raum wird exklusiv ein Raum des Lebens sein, ein Raum ohne Schmerz und ohne Tränen, ein Raum ohne Krankheit und ohne Leid, ein Raum ohne Destruktives oder Entwürdigendes.
Doch stopp – es wird gestorben, auf der ganzen Welt, stündlich, überall. Dies sogar dann, wenn dem Diesseits ein Jenseits zur Seite gegeben wird, in der Sprache Bonhoeffers: wenn der vorletzten Wirklichkeit die letzte Wirklichkeit zur Seite gestellt wird. Hier und jetzt leben wir, in aller Hinfälligkeit und Vergänglichkeit, eben in der diesseitigen, vorletzten Wirklichkeit.
Wie wollen, sollen und können wir all diesen herben, unwirschen, bedrückenden diesseitigen Wirklichkeiten mündig begegnen? Wie die vorletzte Wirklichkeit von der letzten Wirklichkeit durchdringen lassen?
Das Einzigartige, nahezu Unverständliche, Unfassbare: In der Antwort darauf gewinnen wir eine ganz neue Sichtweise auf alles Älterwerden, alle Schwäche, alle Gebrechlichkeit, jegliches Alter. Der befreiende Gedanke lautet: Wenn Christus wirklich in diese Welt gekommen ist, um Versöhnung zu stiften, wenn Christus wirklich gekommen ist, um Frieden zu bringen, dann ist es naheliegend, dass auch wir dem Leid, dem Notvollen, allem Schwachen, ja, dem Sterben und dem Tod in grundlegender Versöhnungsbereitschaft begegnen dürfen. Sogar Christus hat sich dem Schöpfungsgesetz des Sterbens unterworfen. Befriedung ist möglich. Versöhnung ist der Weg.
Ab diesem Augenblick müssen Krankheit, Leid und Schmerz, Schwachheit und Gebrechlichkeit nicht mehr um jeden Preis mit allen erdenklichen Mitteln bekämpft und vermieden werden. Ein hoffnungsvolles Entspanntsein, ein getrostes Nach-vorne-Schauen, ein zuversichtliches Jasagen, ein dankbares Freisein: dies wäre das Ergebnis echter Versöhnung mit der Wirklichkeit dieser Welt, mitsamt allem Tod und all seinen Genossen.
Wir sind dann entspannt und befriedet zu allem Älterwerden, zu allem Langsamer-Werden, zu allem weniger Schönen, zum Alter schlechthin.
Alter ist dann definitiv keine zu bekämpfende Krankheit mehr, vielmehr eine ganz normale Lebensphase und Sprungbrett in das eigentliche, noch bevorstehende Leben ohne Schmerz, Einengung und Begrenzung. Dem Tod ist die Macht genommen. Ich kann ihm in die Augen sehen. Ich sehe nicht auf seine Fratze, sondern durch diese hindurch auf das Erfrischende und Gewinnende der dahinterliegenden Welt, die in einzigartiger Weise aufleuchtet.
Fragen zum Finale
Der Tod hat definitiv nicht das letzte Wort. Gut, wenn wir ihn etwas weniger ernst nehmen. Sterben ist kein gegen die graue Wand fahren. Vielmehr ein Schritt in das Schönste, was je uns Menschen zugedacht worden ist. Die Bibel ist voller Beschreibungen und Zusagen zum Kommenden. Altes und Neues Testament laufen über von dem, was Gott für kommende Zeiten vorschwebt.
Bildlich wird das in der folgenden Grafik ausgedrückt:
Hinter der geöffneten „grauen Wand“ verbirgt sich jene letzte Wirklichkeit, in die hinein Dietrich Bonhoeffer aus vergitterten Fenstern blickte. Angerührt und bewegt von dieser letzten Wirklichkeit sagte er am Abend vor seiner Hinrichtung den letzten uns überlieferten Satz: „Dies ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“
Was ich durch den Türspalt oder eben durch das „Loch in der grauen Wand“ sehen und schauen darf, ist so sehr werbend und einladend, dass stabilste Verankerungen und stahlharte Fixierungen meines Lebens in Bewegung geraten. Da fehlen die Worte. Atemloses Staunen. Ungehindertes Sich-Aufrichten. Grund zu wahrer Freude. Hier werden keine Luftschlösser gebaut, vielmehr bekommen wir Einblick in ungeahnte Weiten, werfen einen Blick in die eine letzte, ewige, himmlische Welt.
Spätestens vor diesem goldenen Hintergrund haben Alter und Älterwerden eine einzigartige Zukunft. Es gibt ein gelassenes Sterben. Hier leuchtet glaubwürdig auf, was uns verheißen ist und was Gott vorschwebt. Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon. Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein, dass sie verkündigen, wie der Herr es recht macht (Ps 92,13-16).
Markus Müller war Direktor der Pilgermission St. Chrischona. Heute arbeitet er als Heimpfarrer mit alten, sehr alten und
sterbenden Menschen.
Auszug aus: Lebensplanung für Fortgeschrittene. Wie wir älter werden wollen. SCM, Holzgerlingen 2016, S. 225-239, gekürzt.