Alter Mann schaut hinter einer Gardine hervor in die Ferne

Nicht vergessen, wer wir sein werden

Als ich noch einem anständigen Beruf nachging und nicht bis mittags im Schlafanzug zu Hause saß, um ein paar Wörter in die Tasten zu hämmern und nebenher das Essen verbrennen zu lassen, habe ich eine Zeit lang als Krankenschwester in der ambulanten Pflege gearbeitet. Die Arbeit und die Begegnungen mit den alten und kranken Menschen in ihrem Zuhause hat mir meistens Freude gemacht. Nur den Wochenenddiensten habe ich immer mit Besorgnis entgegengesehen. Wir waren weniger Personal, und die Touren, die wir sonst unter der Woche zu zweit erledigten, wurden zusammengelegt.

Ich startete früh am Morgen. In Höchstgeschwindigkeit verabreichte ich Spritzen, versorgte Wunden, kontrollierte Medikamenteneinnahmen, säuberte Gebisse und die dazugehörenden Menschen. Kaum hatte ich die alten Menschen, die geduldig auf mich gewartet hatten, begrüßt, war ich auch schon wieder auf dem Sprung zum nächsten Patienten.

Gegen Abend wurde es dann etwas ruhiger. Da konnte ich mir ein bisschen mehr Zeit nehmen und nachfragen, wie der Sonntag so verlaufen war. Unter den Erzählungen lag oft ein ganzer See von Traurigkeit über die einsamen und viel zu ruhigen Stunden dieses Tages. Manche waren einfach nur froh, wenn sie ein bisschen reden konnten. „Schwester, holen Sie doch bitte noch mal das Fotoalbum aus dem Regal!“, bat ein alter Mann oft freundlich. Und dann setzte ich mich mit ihm auf das Sofa, und wir schauten zusammen die Fotos der Menschen an, die sein Leben ausgemacht hatten und die er nun so schrecklich vermisste. Immer schwang auch eine große Dankbarkeit in seinen Erzählungen mit, und ich bin ganz erfüllt nach Hause gegangen. Diese tapferen, alten Menschen erinnern mich daran, dass das Leben sich verlangsamen wird. Für uns alle. Dann nicht mehr als Kür, als Möglichkeit, unser volles Leben zu entschleunigen, sondern als Pflicht. Wie gut, wenn man dann schon ein wenig geübt hat und die ruhigen Stunden wie einen vertrauten Freund willkommen heißen kann, der uns auf der letzten Wegstrecke begleiten wird.

Ich habe großen Respekt vor Menschen, die sich mit dankbarem Herzen dem Altwerden stellen! Ich hoffe sehr, dass mir das auch einmal gelingt. Noch ist es nicht so weit. Ich habe zwar nicht mehr die Kraft, sonntags energiegeladen von einem Haus zum anderen zu rennen, aber ich bin auch noch ein ganzes Stück von den gezwungenermaßen sehr ruhigen Sonntagen entfernt. Aber sie werden kommen. Die Stunden, an denen ich sonntags am Fenster stehe und auf Hilfe warte für alles, was ich nicht mehr allein hinbekomme. Und wie froh werde ich dann sein, wenn sich jemand die Zeit nimmt, mit mir durch meine Erinnerungen zu blättern. Ab und zu ist es gut, dass man sich „voraus-erinnert“. Damit wir schon heute diejenigen nicht vergessen, die wir einmal sein werden.

Aus: Christina Schöffler, Slow living – Aus der Ruhe leben. 52 Impulse für Sonntags-Entdecker, © Gerth Medien 2022, S. 232-235

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