© M.S. Corley

Biografische Tsunamis

Wenn das Vertrauen zerbricht

Thomas Härry – Es gehört zur Realität des Lebens und des Glaubens, dass es nicht immer und stetig bergauf geht. Dass wir nicht immer nur und ausschließlich Wachsende sind. Es gibt Momente, in denen wir nichts anderes sind als vom Sturm Zerzauste und weit Zurückgeworfene. Scheiternde, Versagende, bis ins Mark unseres Seins Erschütterte. Das kann uns selbst dann passieren, wenn es unser tiefster Wunsch ist, im Glauben zu wachsen, Gott zu lieben und sein Reich zu bauen. Manchmal geschehen Dinge, die wir nicht verstehen können und an denen unser Vertrauen zerbricht gegenüber Gott.

Wirbelstürme und Flutwellen

Die Gründe dafür können vielfältig sein. Ich ­nenne Ereignisse, die diesen Effekt haben, ­„biografische Tsunamis“. Es sind Wirbelstürme, die uns nehmen und zerstören, worauf wir jahrelang gebaut haben. Flutwellen, die erbarmungslos wegfegen, was uns lieb und teuer ist. Enttäuschungen, tiefe Wunden, Erfahrungen, in denen wir Gott so sehr gebraucht hätten. Doch aus irgendeinem Grund hat er nicht eingegriffen; hat das Steuer nicht herumgerissen.

Manche unserer Enttäuschungen Gott gegenüber haben mit falschen Bildern zu tun, die wir uns von ihm machen. Oder mit unserer Weigerung anzuerkennen, dass es Geheimnisse und verborgene Führungen Gottes gibt, hinter die wir in diesem Leben niemals kommen werden. Dennoch – manchmal zerbricht auch das Vertrauen von ernsthaften, integren, leidenschaftlichen, auf Gott ausgerichteten Menschen.

In der Bibel werden uns eine ganze Reihe solcher Menschen beschrieben. Einer ist der Prophet Jeremia. Er tut nichts anderes, als Gottes Ruf zu folgen. Mit ganzer Kraft verkündigt er dem Volk Israel den Willen Gottes. Dennoch wird sein Leben von destruktiven Kräften und Menschen so erschüttert, dass er an Gott und am Leben verzweifelt (siehe Jeremia 20,7-18).

Oder denken Sie an Johannes den Täufer. Voller Hoffnung und Enthusiasmus hat er den Weg des Messias vorbereitet. Als Jesus dann endlich seinen Dienst antritt, landet er selbst im Gefängnis. Bald ahnt er, dass er nie wieder herauskommen wird. Irritation und Zweifel rauben ihm seine ganze prophetische Kraft. Er erwägt die Möglichkeit, dass Jesus vielleicht doch nicht der versprochene Retter ist (siehe Mt 11,2-3).

Und wie hat sich wohl Jakobus, der Jünger von ­Jesus, gefühlt, als er im Gefängnis saß und dort erfuhr, dass er enthauptet werden soll? Wie stand es um sein Vertrauen, als der Tag kam, an dem er zur Hinrichtung geführt wurde? Er, einer der zwölf Freunde von Jesus, denen der Herr den Auftrag gab, das Reich Gottes bis ans Ende der Welt zu tragen? Was war nun von all dem geblieben? Wo war Gott und wo war seine Kraft, aus der Not zu retten (siehe Apg 12,1-2)?

Was können, dürfen und sollen wir tun, wenn uns solch „biografische Tsunamis“ treffen, deren Zerstörungskraft drauf und dran ist, unsere letzte Portion Vertrauen wegzufegen? Ein sorgfältiger Blick in die Bibel hilft uns dabei. Was tun Gottes Leute, wenn ihnen solche Dinge passieren?

Nicht fromm kaschieren

Als Erstes fällt mir auf, dass sie ihre irritierten Gefühle, ihren Zorn und ihre Frustration nicht fromm wegdrücken. Kein oberflächliches oder unehrliches: „Gott macht keine Fehler – auch das dient mir nun zum Besten.“ Manche Menschen empfinden tatsächlich in der Tiefe ihres Herzens so. Bei ihnen ist es echt und glaubwürdig, wenn sie so etwas sagen. Ich habe aber zu oft Menschen erlebt, bei denen es mir eher wie eine fromme Phrase erschien. Sie nahmen diese Worte nur deshalb in den Mund, weil sie es sich nicht erlaubten, wirklich ehrlich zu sein. Sie meinten, jede andere Antwort sei eines reifen Christen nicht würdig. Und so verbogen sie sich selbst zu einer Frömmigkeit, die nicht dem entsprach, was in der Tiefe ­ihres Herzens brodelte und zum Himmel schrie.

Die Menschen der Bibel erlauben sich, ihr Herz sprechen zu lassen. Sie lassen ihren Gefühlen freien Lauf, auch den unschönen. Sie wissen, dass sie Gott nichts vorzumachen brauchen. Sie dürfen sagen und ausdrücken, was in ihnen ist und müssen sich nicht frömmer geben, als sie sind. Lesen Sie zum Beispiel in Jeremia 20,7-18, mit welch unglaublichen Worten sich der Prophet bei Gott beschwert. C.S. Lewis soll einmal gesagt haben: „Beten heißt, Gott das sagen, was in uns ist, nicht was in uns sein sollte.“

Klagen und streiten

Mir fällt auch auf, dass die Menschen der Bibel klagen können. Sie schreien zu Gott und machen ihm sogar Vorwürfe: „Du hast mich im Stich gelassen! Du hast mir nicht geholfen. Ich bin enttäuscht, verwirrt und zornig!“ So und ähnlich klingt es in vielen Psalmen. Haben Sie gewusst, dass es in der Bibel mehr Klagepsalmen als Lob- und Dankpsalmen gibt? Weshalb eigentlich schlägt sich das nicht in unserer Liedkultur nieder? Wer schreibt heute noch Klagelieder? Kaum einer. Ist das nicht auch ein Ausdruck davon, dass wir solche für viel zu wenig „fromm“ halten?

Ich halte das für pure Einseitigkeit, die dem Volk Gottes nicht guttut. Die Menschen der Bibel klagen! Sie streiten und rechten mit Gott! Sie werfen ihm ihre ganze Frustration vor die Füße! Sie weinen, sind trotzig und zornig und sie erlauben sich, so zu sein. Ich halte das für extrem wichtig! Es hat einen reinigenden Effekt auf unsere Seele, wenn raus darf, was sich in uns drin tummelt – egal, ob es schön ist oder nicht. Wenn es ausgesprochen wird vor Gott und nicht versteckt wird. Gott sieht es ja so oder so! Und er kann bestens damit um­gehen. Er ist darin seit Jahrtausenden erfahren und es hat nicht an seiner Ehre gekratzt!

Eingebettet sein

Ein weiteres gilt für die Menschen der Bibel: Sie sind inmitten ihrer Erschütterungen nicht alleine. Sie kennen kein individualistisches Glaubens­leben, das sich nur in den eigenen vier Wänden abspielt – für mich allein, zwischen mir und Gott. Sie sind in ihrer Zeit alle ein Teil des großen Gottesvolkes bzw. einer konkreten Gemeinde an dem Ort, an dem sie leben. Sie sind eingebettet in Beziehungen zu jungen und alten Geschwistern im Glauben. Doch sie teilen nicht nur den Glauben mit anderen, sondern auch das Leben und in vielen Fällen sogar ihren Besitz. Und: Sie teilen Freud und Leid. Sie sind umgeben von Mitchristen, die mitweinen, wenn das Leben zerbricht. Von Freunden, die sie umarmen, mitleiden, trösten, helfen. Und stellvertretend für sie auf Gott vertrauen, wenn sie es temporär nicht mehr können.

Wie viele Christen in unserer individualistischen Gesellschaft haben in einem Umkreis von fünfzehn Gehminuten Mitchristen, die sie tragen, wenn ihr Leben seine Tragkraft verliert? Haben Sie solche Menschen um sich? Ein biografischer Tsunami vermag weit weniger zu zerstören, wenn wir Freunde haben, die sich mit uns gegen den Wind stellen und uns helfen, mit den Trümmern unseres Lebens fertig zu werden. Die Menschen der Bibel haben solche Freunde, weil sie immer Teil einer konkreten, sich regelmäßig treffenden Glaubensgemeinschaft sind, die unter anderem genau für solche Momente gegeben ist.

Nicht vertrauen und doch vertrauen

Es rauslassen, in Worte fassen, klagen, weinen und nicht alleine bleiben – diesen Weg gehen die Menschen der Bibel. Machen Sie diesen auch zu Ihrem Weg, wenn Ihr Vertrauen aus irgendeinem Grund zerbricht. Erlauben Sie sich das! Es ist der einzige Weg, wie Ihre Seele früher oder später wieder Ruhe finden kann. Machen Sie sich keine Sorgen darum, dass Sie damit Gott beleidigen könnten. Wenn ihn etwas traurig macht, dann ist es Ihre Scham und Ihre Unehrlichkeit ihm gegenüber. Mit Ihrer Ehrlichkeit kommt er gut zurecht. Ihre Vorwürfe und Ihre Anklagen bringen ihn nicht aus dem Konzept. Er ist das einzige Wesen im Universum, das wirklich gut damit umgehen kann. Ich wage sogar zu behaupten, dass Gott sich freut, wenn wir vor ihm weinen, klagen und zornig sind. Denn dann sind wir immer noch vor ihm. Es ist ein Ausdruck davon, dass wir nicht einfach weglaufen und die Türe hinter uns zuschlagen. Wir bleiben selbst in unserer Wut und Trauer bei ihm. Wir setzen uns mit ihm ausein­ander und bleiben so auf ihn bezogen.

Vertrauen kann also auch heißen: Ich vertraue Gott so sehr, dass ich mir erlauben kann, vor ihm ungeschminkt ehrlich zu sein. Ein solcher Umgang mit meinem verlorenen Vertrauen wird auf diese Weise zu einem Ausdruck dafür, dass ich ­irgendwo tief in meiner Seele doch noch vertraue. Ich vertraue, dass ich mich Gott als Nichtvertrauender zumuten kann. Wenn alles zerbricht, ist noch nicht alles zu Ende …

Esther Mujawayo-Keiner kommt aus Rwanda. Beim Völkermord 1994 wurden ihre Eltern, ihr Ehemann und ihre Schwester ermordet. Sie überlebte mit ihren drei kleinen Töchtern. Heute lebt sie in Deutschland. Die Wunden und der Schmerz, welche diese traumatischen Ereignisse mit sich brachten, sind immer noch tief. Sie schreibt:

„Ich brauchte lange, um mich mit Gott zu versöhnen. Wo war er, als man uns massakrierte? Die Rwander sagen, dass Gott abends immer nach Rwanda zum Schlafen kommt. Wo war er, als ­seine Menschenkinder Rwanda – sein Zuhause – abbrannten, als die Kirchen, wo man ihn anbetete, zu Schlachthäusern wurden? Für mich sind bestimmte Gotteshäuser in Rwanda immer noch die Schlachthäuser der Abertausende von Menschen, die sich dorthin geflüchtet hatten in der trügerischen Hoffnung, dort verschont zu werden. Das sind die Baustellen persönlicher Versöhnung mit mir und Gott, an denen ich arbeite. Das Ganze ist nicht einfach und braucht Zeit … Ich lasse meinen Zorn und meinen Hass heraus, weil ich nicht möchte, dass sie mich innerlich töten. Wir müssen ganz vorsichtig herangehen an die großen, hoffnungsvollen Worte von Versöhnung und Ver­gebung“.1

„Schüttet euer Herz vor ihm aus!“, fordert David in Psalm 62,9 alle verzweifelten, vom Leid überrannten Menschen auf. Welche Fragen, welchen Kummer, welchen Schmerz haben Sie viel zu lange heruntergeschluckt und weggedrängt? Wenn Sie es wagen, Ihre damit verbundenen Empfindungen und Gedanken vor Gott auszusprechen, ohne zu fürchten, dass er das missbilligt, dann beginnen Ihrem Vertrauen neue Flügel zu wachsen!

Anmerkungen:
1 Esther Mujawayo-Keiner: „Weiterleben, trotz allem“. In Auftrag, Heft Nr. 2, Juni-August 2011, Seite 36 (Mission 21, Evangelisches Missionswerk Basel).

Thomas Härry ist Schweizer Theologe. Er arbeitet als Fachdozent für Neues Testament und Gemeindearbeit am Theol.-Diak. Seminar Aarau und als freier Referent.

Aus: Voll Vertrauen. Erfahren, wie Gott mich trägt. SCM R. Brockhaus, Witten 2011, S. 145-151 (leicht gekürzt)

Bild: © M.S. Corley
Brennpunkt-Seelsorge 1 / 2023: Ganz im Vertrauen
Magazin bestellen oder PDF downloaden
Vorheriger Beitrag
Mit den Augen einer Mutter
Nächster Beitrag
Meine Hoffnung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Artikel zum Thema

Archiv