Tief verwurzelt

Wie Kinder an Krisen wachsen können

Ursula Hein – Brauchen Kinder Krisen? Spontan würden die meisten von uns wohl mit Nein antworten. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, warum es wichtig für Kinder ist, Krisen zu erleben und zu bewältigen. Mit „Krisen“ meine ich keine traumatischen seelischen Verletzungen, sondern die kleinen und größeren Zumutungen im Alltag, durch die Kinder – begleitet von ihren Eltern – Fähigkeiten einüben, die sie später brauchen werden.

Es gibt eine botanisch nicht haltbare, aber eindrucksvolle Geschichte zum lebensstiftenden Sinn von Zumutungen: Am Strand der Südsee­inseln wachsen Palmen. Sie tragen Früchte und liefern den Einheimischen wertvolles Baumaterial. Wenn aber vom Meer der Sturm kommt, drohen die bis zu 30 Meter hohen Bäume umzustürzen, weil sie als Flachwurzler dem Sturm nicht standhalten können. Um das zu verhindern, legen die Einheimischen den jungen Palmen schwere Gewichte in die Krone. Durch den Druck des Widerstandes bilden die Palmen nun Pfahlwurzeln, die im Korallengeflecht unter dem Sandstrand festen Halt finden. So können sie dem Sturm besser standhalten.

Wir als Eltern haben mitunter Angst davor, unseren Kindern Widerstand, Enttäuschungen, Verzicht und Herausforderungen zuzumuten. Der Grund dafür kann in nichtverarbeiteten Krisen liegen, die wir selbst als Kinder erleben mussten, und auf die wir bis heute weder Antwort noch Heilung gefunden haben. Wenn wir in solch einem kritischen Wendepunkt einer schmerzhaften Krise steckengeblieben sind, – vielleicht in Resignation oder in der Anklage gegen Menschen und gegen Gott –, werden wir verständlicherweise viel eher dazu neigen, unseren eigenen Kindern das ersparen zu wollen und sie vor allen schmerzhaften Erfahrungen zu schützen. Wir sind uns oft nicht bewusst, dass die eigentliche Schwierigkeit nicht in der Krise an sich besteht, sondern im Fehlen hilfreicher Begleitung und konstruktiver Bewältigungsstrategien. Wir alle erleben es: Kritische Situationen und sonstige Zumutungen lassen sich trotz aller Anstrengung nicht verhindern. Wenn wir als Eltern jedoch ständig die Verantwortung für die Schwierigkeiten der Kinder übernehmen und sofort versuchen, die entstandenen Spannungen abzubauen und Lösungen für sie zu finden, selbst wenn unsere Kinder schon selbst dazu fähig wären, werden sie keine eigenen hilfreichen Strategien entwickeln.

Spätestens wenn diese Kinder dann außerhalb des Elternhauses herausfordernde Erfahrungen machen, werden sie enttäuscht oder entmutigt sein und sich schnell von Menschen und von Gott im Stich gelassen erleben. Ihre Lebenswurzeln sind flach und Lebensstürme können für sie zu einer ernsthaften Bedrohung werden.

 Wie werden unsere Kinder „Pfahlwurzler“?

Umgang mit Gefühlen: Eigene Gefühle wahrnehmen, benennen, aushalten, mit ihnen umgehen lernen, sie loslassen.

Soziale Kompetenz: Wenn erfahrene Zumutungen ausgehalten und verarbeitet werden, kann die Fähigkeit wachsen, sich später in andere benachteiligte Menschen hineinzuversetzen und ihnen beizustehen.

Umgang mit Verzicht: Nicht in Selbstmitleid stecken bleiben, sondern kreativ Lösungswege suchen.

Eigene Beziehung zu Gott: In nicht lösbaren Krisen nicht verzweifeln, sondern Hilfe bei Gott suchen und erwarten.

An jeweils einem Beispiel möchte ich diese vier Fähigkeiten erläutern.

  1. Umgang mit Gefühlen

Kinder erleben in der Regel Gefühle intensiver als Erwachsene, besonders in den ersten sieben Lebensjahren. In diesem Alter können sie die Wucht ihrer Gefühle noch nicht beherrschen und dürfen deswegen für den Gefühlsausbruch nicht bestraft werden.

Es ist für den dreieinhalbjährigen Theo zum Beispiel schwer zu erleben, dass er die spannende CD nicht zu Ende hören kann, weil er mit seiner Mutter zu einem Arzttermin aufbrechen muss. Er bricht in einen Wutanfall aus. Als nun auch noch der kleine Bruder diese Situation nutzt, um seine gehüteten Süßigkeit aufzuessen, überschwemmen Gefühle von Enttäuschung und Wut den Dreieinhalbjährigen. Dann tut es ihm gut, von seiner Mutter wegen der gezeigten Gefühle nicht beschimpft und bestraft zu werden, sondern zu erleben, dass sie die Wucht der Gefühle mit ihm aushält. Es hilft ihm nicht, von diesen Gefühlen durch alternative verlockende Angebote abgelenkt zu werden. Es hilft ihm aber, wenn Vater oder Mutter für ein paar Minuten versuchen zu fühlen, was er fühlt, und ihn dabei in den Arm nehmen. Dabei können Sie etwas Einfaches sagen wie: „Ich weiß, dass das für dich eine große Enttäuschung ist.“ So erlebt sich das Kind verstanden.

Es ist allerdings nicht hilfreich, sich grenzenlos in die Kinder hinein zu fühlen, sonst kann es sein, dass Sie selbst in eine Krise kommen. Lassen Sie Ihr Kind mit der Situation nicht allein.

Erlebt das Kind ähnliche Situationen immer wieder, lernt es dabei, seine Gefühle wahrzunehmen, die damit verbundene Spannung auszuhalten und die Gefühle von Wut und Enttäuschung loszulassen. Es lernt, dass Enttäuschungen zum Leben dazugehören.

  1. Soziale Kompetenz

Für die fünfjährige Leonie war es eine schmerz­liche Erfahrung, ihre beiden Freundinnen im Kindergarten durch ein neu dazugekommenes Kind in der Gruppe zu verlieren. Sie durfte nur noch mitspielen, wenn sie für eine Spielidee gebraucht wurde. In diesem Alter können Kinder in einer Krisensituation noch keine eigene Lösung finden. Noch brauchen sie Begleitung und Unterstützung. Es half Leonie, dass die Mutter bereit war, sich ihre Klagen immer wieder anzuhören. Die Mutter wusste aus eigenem Erleben, dass Mädchen ihren Schmerz verarbeiten, indem sie darüber reden. Zusätzlich machte sie sich die Mühe, nachmittags Mädchen aus der Nachbarschaft zum Spielen einzuladen. Trotzdem litt Leonie unter dieser Situation im Kindergarten. Um Leonie zu ersparen, dass sie diese Ausgrenzung auch nach der Einschulung erleben würde, schulten die Eltern sie in eine weiter entfernte Grundschule ein. Zur großen Erleichterung der Eltern fand Leonie dort ihren Platz unter den Mitschülerinnen. Sie erlebte, dass andere gern mit ihr zusammen waren. Das stärkte ihr verunsichertes Selbstwertgefühl. Sicher nicht nur, aber wohl auch, weil sie den Schmerz sozialer Ungerechtigkeit selbst erfahren und mit Hilfe der Mutter verarbeitet hatte, wurde sie empfindsam für den Schmerz anderer. Heute ist Leonie 13 Jahre alt und Klassensprecherin, die sich für die Nöte ihrer Mitschüler engagiert einsetzt.

Weil sie durch die Begleitung der Mutter Zuwendung und Trost erlebt hatte, ist sie nicht im Jammern und in der Anklage steckengeblieben, sondern konnte Fähigkeiten entwickeln, sich für andere benachteiligte Menschen einzusetzen.

  1. Umgang mit Verzicht

Als unsere Tochter 14 Jahre alt war, konnten wir ihren Klavierunterricht nicht mehr bezahlen. Einige Tage lang war sie verständlicherweise sehr traurig. Dann kam ihr die Idee, nur noch zweimal im Monat Klavierunterricht zu nehmen und dies von ihrem Kleidergeld selber zu finanzieren. Das bedeutete allerdings, dass sie den Mut aufbringen musste, mit abgetragener Kleidung herumzulaufen. Aber sie wusste sich zu helfen: sie fing an, sich ihre Kleidung selbst zu nähen. Zwar klappte das nicht so schnell und leicht, wie sie sich das vorgestellt hatte; da sie aber ein Ziel hatte, – nämlich weiter Klavierunterricht zu nehmen –, hielt sie durch. Von ihren Mitschülerinnen bekam sie sogar viel Anerkennung für die selbstgenähten Sachen.

Wenn wir uns wünschen, dass unsere Kinder bei Situationen des Verzichts nicht im Selbstmitleid steckenbleiben, müssen wir sie nach der ersten berechtigten Trauer darin unterstützen, selber kreative Lösungen zu suchen und zu finden.

  1. Eine eigene Beziehung zu Gott bauen

Jakob wurde in der 6. Klasse von einigen Mitschülern gemobbt. Als er seinen Eltern davon erzählte, hatten sie gleich viele Ratschläge, wie er mit dieser Situation fertigwerden könnte. Er weigerte sich, diese Ratschläge anzunehmen und sprach überhaupt nicht mehr darüber. Aus seinem Schweigen schlossen die Eltern, dass sich die Situation gebessert hatte. Das war aber nicht der Fall. Sie wurde so unerträglich für Jakob, dass eines Abends bei einem gemütlichen Beisammensein mit der Mutter seine Verzweiflung zum Ausbruch kam. Er fing an zu sprechen und begann zu weinen. Seine Mutter war sprachlos vor so viel Not. Ihrem Herzen folgend, fragte sie Jakob behutsam, ob sie das Gehörte in einem Gebet vor Jesus formulieren dürfe. Jakob willigte zögernd ein und fand, nachdem die Mutter gebetet hatte, eigene Worte des Betens. An diesem Abend entdeckte er Jesus als seinen Freund. Nun war er in seiner Not nicht mehr allein. In der Gegenwart dieses neuen Freundes fand er einige Zeit später den Mut, dem ihn quälenden Jungen zu sagen: „Dein Verhalten verletzt mich. Du wirst das in Zukunft lassen.“ Jakob lernte, sich nicht mehr wie ein hilfloses Opfer zu fühlen und zu handeln, sondern um seine Würde zu kämpfen.

Wenn unsere Kinder erleben, dass wir als Eltern in Krisensituationen, in denen wir nicht mehr weiterwissen, nicht verzweifeln, sondern Mut und Kraft bei Gott finden, wird in ihnen die Sehnsucht geweckt, selbst diesen Halt bei Gott zu suchen.

In diesen Beispielen überwundener Widerstände haben Eltern und Kinder erlebt, dass die Zumutung dazu herausforderte, Standfestigkeit einzuüben. Kindern können „Pfahlwurzeln“ wachsen, die ihnen helfen, Lebensstürmen standzuhalten.

Seien Sie ermutigt, sich nicht vor der nächsten Zumutung zu fürchten, sondern freudig gespannt zu sein, mitzuerleben, wie Ihre Kinder daran wachsen und dadurch beschenkt werden.

Ursula Hein gehört mit ihrem Mann Dierk seit über 40 Jahren zur Kommunität der OJC. Sie ist eine erfahrene pädagogische Ratgeberin.

Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2023: Achtung! Dieses Heft ist eine Zumutung!
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