Zwischen Angst und der Sehnsucht nach Leben

Wenn Missbrauch die heile Welt zerbricht

Carolin Schneider im Gespräch mit Ille Ochs

Liebe Ille, kannst du uns kurz etwas mitnehmen in deine eigene Geschichte? Was ist dir widerfahren?

Ich bin das Nesthäkchen von vier Geschwistern. Meine Familie und das gesamte Umfeld, in dem ich groß wurde, war eine sogenannte heile Welt. Zumindest wurde mir das immer gesagt, zum Beispiel von den Mitgliedern unserer Freikirche, die im wahrsten Sinne des Wortes unser Zuhause war. Denn im Gemeinde­haus – direkt über dem Gemeindesaal – bewohnten wir eine Dreizimmerwohnung. „Onkel Karl“, so wurde mein Vater genannt, war allseits beliebt, als jemand, der ein Herz für Kinder hatte, Freizeiten durchführte und Menschen die Liebe Gottes nahebrachte. Und er war ein wunderbarer Vater. Davon war ich überzeugt, und so sollte es auch bleiben. Ich wollte ihm nichts Böses zutrauen. Und doch hat er über Jahre mich, meine Geschwister, seine Enkel und viele Kinder in der Gemeinde sexuell missbraucht.

Was hat das für dein weiteres Leben bedeutet?

Ich kann meine innere Haltung in einem Satz auf den Punkt bringen: „Ich bin falsch!“ Scham- und Schuldgefühle waren meine ständigen Begleiter. Für mich war klar: Gott ist auf der Seite meines Vaters, der sich so sehr für ihn einsetzt und ihn liebt. Also musste mit mir etwas nicht stimmen. Ich fühlte mich oft wie in einer Blase, die mich von anderen isolierte. Gleichzeitig konnte ich keine Grenzen setzen und geriet immer wieder in ungesunde Abhängigkeiten von Menschen, ließ mich auf eine Nähe ein, die ich eigentlich nicht wollte. Das ganze Leben gestaltete sich für mich als eine ständige Herausforderung, der ich nicht gewachsen war. Später kamen Selbsthass, Selbstverletzung, körperliche Symptome und Phobien hinzu.

Du hast ein Buch mit dem Titel „Im ­Käfig der Angst“ geschrieben. Das hört sich alles andere als hoffnungsvoll an, war aber eine Realität in deinem Leben. Kannst du beschreiben, was es bedeutet hat, in einem Käfig der Angst zu leben?

Tatsächlich könnte man mich als diejenige „mit den fliegenden Schuhsohlen“ bezeichnen. Ich bin oft geflüchtet, aus dem Kindergarten, aus der Schule, vor dem Examen, sogar noch im Berufsleben. Ich hatte Angst vor der Nacht, vor Gott und seinem Urteil, vor Autoritätspersonen, vor Männern und starken Frauen, vor Überforderung. Angst, Angst, Angst! Sie nahm mir den Atem, ich geriet in Panik und ­flüchtete – wenn es möglich war, nach außen. Wenn dies nicht möglich war, flüchtete ich nach innen. Meine Gefühle erstarrten und ich nahm nichts mehr wahr.

Ist dir die Hoffnung mal komplett verloren gegangen?

Ja, vor allem als Teenager: Da wollte ich nicht mehr leben. „Es wäre am besten, gäbe es mich gar nicht!“, war meine Devise. Besonders schlimm wurde die Hoffnungslosigkeit, als ich – inzwischen mit einem Pastor verheiratet – von Phobien und heftigen Panikattacken heimgesucht wurde. Da hatte ich wirklich Angst, verrückt zu werden, und ich sah keinen Ausweg mehr.

Ich habe dich vor einigen Monaten als eine starke, fröhliche, zuversichtliche Frau kennengelernt. Du hast einen weiten Weg hinter dir. Viele kleine Puzzlesteine haben dazu beigetragen, dass du heute dein Leben hoffnungsvoll gestalten kannst.

Da hast du recht, im Rückblick kann ich selbst nur staunen. Es gab sichere Orte, Menschen, bei denen ich mich angstfrei fühlte, die mich ermutigt und an mich geglaubt haben. Es gab Einzeltherapie, Körpererleben und Tanz. Der entscheidende Puzzlestein aber war das Zulassen und Aussprechen: „Mein Vater hat mir Schlimmes angetan. Er war der Täter, ich war das Opfer.“ Ich durfte ihn anklagen und ihm später am Sterbebett noch vergeben.

Wie kam es dazu?

Während einer Gebetsgemeinschaft in einer mir sehr vertrauten Gruppe hatte ich ein inneres Bild: Ich befand mich vor unserem damaligen Gemeindehaus auf der Straße. Plötzlich öffnete sich das Kopfsteinpflaster vor meinen Füßen. Ein tiefes, dunkles Loch wurde sichtbar. Und ich „hörte“, wie Jesus mich fragte: „Möchtest du hinschauen? Du kannst da hinuntersteigen, brauchst keine Angst zu haben.“ Tatsächlich trug ich in diesem Bild einen Schutzhelm. Da konnte ich es vor der Gruppe laut aussprechen: „Mein Vater hat mich sexuell missbraucht.“ Ein Befreiungsschlag! Gottes Heilungsweg mit mir – inzwischen Mitte ­vierzig – konnte beginnen.

Was hat die Hoffnung in dir am Leben ­erhalten oder sie wieder neu geweckt?

Das klingt vielleicht sehr fromm, aber es war und ist der Mensch gewordene Gott, der zu mir sagt: Du bist geliebt seit Anbeginn. Diese tiefe Beziehung zu Christus und zu mir selbst hält meine Hoffnung lebendig. Auf ihn und seine Liebe zu mir setze ich meine Hoffnung.

Kannst du beschreiben, wie das konkret aussieht?

Früher habe ich geglaubt, etwas tun zu müssen, um meine Hoffnung auf Gott zu setzen und mit ihm in Verbindung zu bleiben. Inzwischen ist es viel entspannter. Ich halte mich ihm hin und sage: „Jesus, da bin ich mit meinen Freuden, Ängsten und Sorgen, mit meiner Wut und meiner Trauer.“ Ich öffne mich ihm und lasse IHN in mir „geschehen“. So wie Maria damals zu dem Engel sagte: „Mir geschehe, wie du gesagt hast“, so sage ich: Mir geschehe, was du in mir und durch mich tun möchtest.

Was hat dir geholfen, nicht aufzugeben?

Es war die Sehnsucht! Die Sehnsucht nach ­Leben, nach echter Beziehung, nach Lachen und Kindsein. Ich wollte tanzen und fröhlich sein. Auch mein Humor half mir dabei, den ich übrigens von meinem Vater geerbt habe. Er hatte einen Sinn für die Komik des Lebens. Ich lache für mein Leben gern.

Und was gibt dir Halt, wenn es dir das Lachen vergeht?

Häufig schickt Gott mir dann einen Menschen, etwas Schönes in der Natur, einen glücklichen Moment, ein Erlebnis mit meinem Hund. Er ist zur Stelle und holt mich zurück. Er passt auf mich auf.

Ich habe immer wieder erlebt, dass ich mich für die Hoffnung entscheiden muss. Würdest du das bestätigen?

Ja, unbedingt. Ich sage dann: „Jesus, ich habe gerade gar keine Hoffnung, sehe keinen Ausweg. Aber ich habe mich entschieden, dir zu vertrauen.“ Manchmal bitte ich ihn, mir seine Sicht auf die Dinge zu zeigen, die mich belasten. Oder ich frage ihn ganz konkret: „Wie siehst du mich?“

Und vermutlich wurden auch manche Hoffnungen enttäuscht.

Oh ja! Nach so vielen Jahren der Aufarbeitung in Form von Seelsorge und Therapie hatte ich geglaubt, dass meine Ängste komplett verschwinden müssten, ebenso meine negativen Verhaltens- und Verdrängungsmuster. Doch weit gefehlt, sie sind immer noch da und machen sich hin und wieder bemerkbar, wenn auch in abgeschwächter Form. Ich bin immer noch ein „Angsthase“, manchmal gelingen mir mutig-zaghafte Schritte nach vorn.

Wie wirst du damit fertig?

Ich bin damit nicht fertig und muss es auch nicht sein. Einmal ging ich mit meinem Hund spazieren, setzte mich auf eine Bank und ließ meinen Tränen freien Lauf. „Warum, Gott, kriege ich das nicht in den Griff?“, schrie ich ihm stumm entgegen. Auf einmal spürte ich ihn so, als säße Jesus neben mir auf der Bank, und er sagte: „Ille, du wirst meine Heilung und meinen Trost immer wieder brauchen. Lass dich von mir heilen und trösten zu jeder Zeit.“

Ille Ochs lebt mit ihrem Mann ­Siegfried und Therapiebegleithund Itthai in Iserlohn. Sie ist u. a. Tanz­therapeutin und Autorin.

Hoffen-Magazin 1 / 2024: Wir danken für das Alte und feiern das Neue!
⇥  Magazin bestellen oder PDF downloaden
Vorheriger Beitrag
Das hat Zukunft
Nächster Beitrag
Mitgefühl setzt Stille voraus

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Artikel zum Thema

Archiv