Wir setzten auf Hoffnung

Unser Weg zum Elternsein

Matthias Casties  – Bereits vor unserer Hochzeit war klar, dass ein Wunder nötig ist, damit wir ­eigene Kinder bekommen. Infolge einer Mumpsinfektion oder eines ­Gendefekts bildeten meine Hoden keine Spermien aus. Das war nicht leicht. Wir wussten, dass spätestens nach einigen Jahren Ehe die ersten Fragen kommen ­würden. Deshalb haben wir gleich bei der Hochzeit unsere Situation und unsere ­Perspektive mit Familie und Freunden geteilt.

Schon damals erwogen wir die Option Pflegeelternschaft. Ich konnte es mir aber mit gerade 24 Jahren noch nicht vorstellen. Wir engagierten uns in unserer Gemeinde im Kindergottesdienst. In der OJC lockte uns auch die beginnende Kinder- und Jugendarbeit im damaligen Reichelsheimer Europäischen Jugendzentrum. In die stiegen wir ein und erlebten es als erfüllend, Zeit mit Kindern und Teens zu gestalten.

Als unsere jüngeren Geschwister Eltern wurden, war das Thema Familie nicht mehr zu übersehen, und wir begannen uns erneut zu fragen, ob wir uns nicht doch auf den Weg machen wollten. Wir waren glücklich mit der Jugendarbeit, glücklich mit uns UND wir spürten, dass Eltern sein noch eine andere Beziehungstiefe bedeuten würde. Jetzt war ich 31 Jahre alt. Wir waren ein kinderloses Ehepaar und beide 100% in der Arbeit mit jungen Menschen engagiert.

Wir entschlossen uns, den OJC-Leitenden unseren Wunsch mitzuteilen, Pflege- oder Adoptivkinder aufzunehmen. Das war der Startschuss zu einem zweijährigen Triathlon, den wir neben unserem Dienst entschieden angingen.

Moneten, Manpower, Machbarkeit

Die erste Disziplin waren die Moneten. Unsere Entscheidung, in einem Spendenwerk mit anderem Vergütungssystem zu leben, brauchte Übersetzungs- und Überzeugungsarbeit bei den zuständigen Ämtern. Das eine war darzulegen, dass eine Pflegeelternschaft in diesem Kontext verantwortungsvoll und gewinnbringend für das Pflegekind ist, das andere waren klare Zahlen zu unserem Verdienst, Anforderungen mussten erfüllt werden. Die nächste Disziplin war die Manpower. Regel­mäßig hatten wir Besuche vom Jugendamt.

Eine Fachkraft prüfte und bewertete auch unsere pädagogische und persönliche Eignung. Die dritte Disziplin war das Machbare. Was wollen wir, welches Kind können wir uns vorstellen aufzunehmen? In einem Seminar hatten wir die Familienaufstellung einer Pflegefamilie erlebt. Pflegevater und -mutter berichteten von ihrer Not, ihr Pflegekind beziehungsmäßig derzeit nicht mehr erreichen zu können. Ich spürte den Beziehungswunsch der Pflegeeltern und nahm die Frustration des Pflegekindes wahr, das schon so oft in seinem Beziehungskontext auf sich selbst zurückgeworfen worden war und sich nicht mehr vertrauensvoll öffnen konnte. Das versetzte mir einen Schock. Ich realisierte einmal mehr: Es werden verletzte Kinder sein.

Obwohl Christine auf die 40 zuging, meldeten wir dem Jugendamt, dass wir offen seien für ein Neugeborenes oder einen Säugling. Die waren selten und wir schon ältere Pflegeeltern, doch nach zwei Jahren kamen wir als Pflegeelternanwärter auf die Warteliste.

In der Disziplin Moneten erlebten wir wirklich Wunder. Menschen stellten sich finanziell zu uns. Bei der Manpower hatten wir den Kinder- und Jugendarbeitsjoker. Es freute und ermutigte uns, dass die zuständige Sachbearbeiterin uns so positives Feedback gab. Und beim Machbaren hieß es nach der amtlichen Anerkennung als Pflegeeltern schlichtweg warten, vertrauen und hoffen. Am Nikolaustag, vier Monate später, kam ein Anruf. Ein Junge sei in eine Bereitschaftspflege gekommen und man dachte an uns. Eine Woche später besuchten wir die Bereitschaftspflegeeltern und nahmen zum ersten Mal Kontakt zu Marius auf. Ich erlebte es als irgendwie bizarr. Man bekommt ein paar Fetzen Lebensgeschichte und Begleitumstände mit. Jetzt halte ich diesen Menschen auf dem Arm und soll entscheiden, ob ich mit ihm zukünftig mein Leben teilen möchte. Wie gut, dass es die Weihnachtstage gab. Wir durften Marius stundenweise zu uns nehmen. Und da passierte es dann, ich verliebte mich in den jungen Mann.

Über das Verliebtsein hinaus checkten wir in den kommenden Tagen alle verfügbaren Fakten zur Situation des Jungen. Da war vieles unsicher. Eine Unsicherheit war, ob er langfristig bei uns bleiben könnte. Wir wägten die Risiken ab, sprachen über unsere Gefühle, unsere Intuitionen, unsere Eingebungen. Die einen Eltern haben neun Monate Zeit und können es sich nicht aussuchen, wir hatten fünf Wochen. Wir setzten auf Hoffnung und dachten: es könnte ja gut werden. So trafen wir eine Entscheidung und informierten das Jugendamt, dass wir bereit wären, Marius Eltern zu sein. Am 16. Januar, mit knapp drei Monaten, kam Marius zu uns. Wir staunten über die Unterstützung, die wir durch andere bekamen. Innerhalb einer Woche war unsere Wohnung kleinkindtauglich. Es folgte unser zehnter Hochzeitstag, an dem wir nochmals Hochzeitskleid und -anzug anzogen und jemand uns mit Marius auf unseren Armen fotografierte.

Drei Jahre später kam an Ostern Marissa dazu, ungefähr im gleichen Alter. Wir haben also ein Weihnachtsgeschenk und eine Osterfreude bekommen. Marissa ist jetzt 20 und macht gerade in Neuseeland ein FSJ, Marius studiert in Frankfurt. 23 Jahre liegt unsere Entscheidung für Elternschaft jetzt zurück. Zeit, die ­anfängliche These zu checken: Eigene Kinder bringen eine andere Tiefe in die Beziehung. Das Ergebnis ist eindeutig: „Stimmt genau“! Wobei ich diese Tiefe immer wieder beidseitig, genauer dreiseitig, zu Gott hin offen, erfahren habe. Als Vater, mit Christine als Mutter an meiner Seite, erlebte ich viel Schönes, auch Versöhnliches, gerade im Blick auf meine ­eigene Kindheit.

Werden und Wachsen

Meine Eltern gehören zur Generation der Kriegskinder, ich bin die wenig gestillte Nestlé-Generation und war oft getrennt von meiner Mutter versorgt worden. Und jetzt hatte ich zwei Kinder. Meine beiden Kinder zu spüren, wie sie auf meinem Arm einschliefen, zu erleben, wie sie mich erkennen und mir ihre Liebe zeigen – das erweiterte und erneuerte viel in mir. Den beiden Vater zu sein und mit Christine zusammen Eltern, macht mir so eine Freude. Meine Kinder zeigten mir, wie sich sicheres Gebundensein anfühlt. Ich konnte dies mitfühlen und so Neues entdecken, was meine Eltern aufgrund ihres Gewordenseins mir nicht hatten mitgeben können. Sicher kam dann auch die Pubertät mit Höhen und Tiefen.

Kinder zu haben ist etwas anderes, als von Herzen Jugendarbeit zu machen. Meine Bereitschaft, an mir zu arbeiten, um ein besserer Mensch zu werden, ist deutlich größer. Das nimmt meine Frau, das nehmen meine Kinder jetzt als Erwachsene dankbar und anerkennend wahr. Aufzugeben war für mich in diesem Kontext keine Option.

Gerade in diesem Jahr erlebe ich, wie tief das Band jetzt ist. Meine Tochter nutzt ihre wertvollen mobilen Daten aus Neuseeland, um mir stolz zu präsentieren, wo sie heute Nacht im Zelt schläft. Da denkt eine junge Frau 18 000 km entfernt beim Zeltaufbauen an mich, kontaktiert mich, teilt ihre Freude und zeigt, dass ich bei ihr ganz präsent bin. Das werde ich nie vergessen. Mein Sohn wollte mit mir vor seinem Studienbeginn eine Woche die Bretagne entdecken. Jeden Abend saßen wir stundenlang da und redeten. Ich merke: Ich bin sein Papa und wir schätzen uns. Ich habe die Chance ihm, wie auch meiner Tochter, ein guter Papa zu sein und immer mehr zu werden. Dabei denke ich an Jesu Gleichnis von einem Vater, der warten kann, der wachen Sinnes ist, der umarmen und küssen kann, ehren und einladen zum Feiern des Lebens.

Ich bin dankbar für diese beiden Menschen in meinem Leben, für unsere Geschichte und was durch die Entscheidung, Familie werden zu wollen, alles Hoffnungsvolles geworden ist.Hoffnung bedeutet ja nicht, dass man immer genau das bekommt, was man sich wünscht. Es kann sich auch ganz anders erfüllen, so wie bei uns. Offen bleiben und die Möglichkeiten tapfer ergreifen, die sich bieten, bringt Erhofftes auf den Weg und beschenkt mit neuen Erlebnissen und Erfahrungen. Wie Hoffnung sich erfüllt, bleibt offen, dass hoffen sich lohnt, habe ich immer neu erlebt.

Matthias Casties (OJC) gehört zum Liturgieteam der Kommunität und zum pädagogischen Team vom ­Erfahrungsfeld Schloss Reichenberg. Er hofft, noch viele weitere Abenteuer mit seiner Frau Christine zu erleben.

Hoffen-Magazin 1 / 2024: Wir danken für das Alte und feiern das Neue!
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