Herrad of Landsberg (1125–1195), Hortus Deliciarum, Der Schoß Abrahams

Abraham gehorcht

Vom Mut (aus sich selbst) heraus zu gehen

Papst Benedikt XVI. –
Liebe Brüder und Schwestern!

Ich möchte heute mit euch über das Credo nachdenken, über das feierliche Glaubensbekenntnis, das unser Leben als Gläubige begleitet. Das Credo beginnt so: „Ich glaube an Gott“. Es ist eine grundlegende Aussage, scheinbar einfach in ihrer Wesentlichkeit, die jedoch zur unendlichen Welt der Beziehung zum Herrn und zu seinem Geheimnis hin öffnet. An Gott glauben bedeutet Treue zu ihm, Annahme seines Wortes und freudigen Gehorsam gegenüber seiner Offenbarung, wie der Katechismus der Katholischen Kirche lehrt: „Der Glaube ist ein persönlicher Akt: die freie Antwort des Menschen auf die Einladung des sich offenbarenden Gottes“ (Nr. 166). Sagen zu können, an Gott zu glauben, ist also gleich­zeitig Geschenk – Gott offenbart sich, kommt uns entgegen – und Aufgabe, es ist göttliche Gnade und menschliche Verantwortung, in einer Erfahrung des Dialogs mit Gott, der aus Liebe „die Menschen anredet wie Freunde“ (vgl. Dei Verbum, 2), der zu uns spricht, damit wir im Glauben und durch den Glauben in Gemeinschaft treten können mit ihm.

Wo können wir Gott und sein Wort hören? Grundlegend ist die Heilige Schrift, in der das Wort Gottes für uns hörbar wird und unser Leben­ als „Freunde“ Gottes nährt. Die ganze ­Bibel berichtet davon, wie Gott sich der Menschheit offenbart; die ganze Bibel spricht vom Glauben und lehrt uns den Glauben, indem sie uns die Geschichte erzählt, wie Gott seinen Erlösungsplan verwirklicht und uns Menschen nahe ist durch viele leuchtende Gestalten: durch Menschen, die an ihn glauben und sich ihm anvertrauen, bis zur Fülle der Offenbarung im Herrn Jesus Christus. Sehr schön ist in diesem Zusammenhang das 11. Kapitel des Hebräerbriefes. Hier ist vom Glauben die Rede, und die großen biblischen Gestalten, die ihn gelebt haben und Vorbilder für alle Glaubenden geworden sind, werden ins Licht gerückt. Im ersten Vers des Textes heißt es: Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht (11,1). Die Augen des Glaubens sind also fähig, das Unsichtbare zu sehen, und das Herz des Gläubigen kann hoffen gegen alle Hoffnung, genau wie Abraham, von dem Paulus im Brief an die Römer sagt: Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt (4,18).

Und bei Abraham möchte ich verweilen und unsere Aufmerksamkeit auf ihn richten, denn er ist die erste große Gestalt, auf die man Bezug nehmen kann, um über den Glauben an Gott zu sprechen: Abraham, der große Erzvater, das beispielhafte Vorbild, Vater aller Glaubenden (vgl. Röm 4,11–12). Der Hebräerbrief stellt ihn so vor: ­Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde. Aufgrund des Glaubens hielt er sich als Fremder im verheißenen Land wie in einem fremden Land auf und wohnte mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung, in Zelten; denn er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hat (11,8–10).

Der Autor des Hebräerbriefes bezieht sich hier auf die Berufung Abrahams, von der im Buch Genesis berichtet wird. Was verlangt Gott von diesem Erzvater? Er fordert ihn auf, aufzubrechen und sein eigenes Land zu verlassen, um in das Land zu ziehen, das er ihm zeigen wird: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in ein Land, das ich dir zeigen werde (Gen 12,1). Wie hätten wir auf eine solche Aufforderung geantwortet? Es handelt sich nämlich um einen Aufbruch ins Dunkel, ohne zu wissen, wohin Gott ihn führen wird; es ist ein Weg, der radikalen Gehorsam und radikales Vertrauen erfordert, zu denen nur der Glaube Zugang gewährt. Aber das Dunkel des Unbekannten – wo Abraham hingehen soll – wird vom Licht einer Verheißung erhellt; Gott fügt der Weisung ein beruhigendes Wort hinzu, das vor Abraham eine Zukunft des Lebens in Fülle öffnet: Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen … Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen (Gen 12,2.3).

In der Heiligen Schrift ist der Segen in erster Linie mit dem Geschenk des Lebens verbunden, das von Gott kommt und sich vor allem in der Fruchtbarkeit zeigt, in einem Leben, das sich vermehrt, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Und mit dem Segen ist auch die Erfahrung des Besitzes von Land verbunden, eines festen Ortes, an dem man in Freiheit und Sicherheit leben und wachsen kann und in Gottesfurcht eine Gesellschaft von Menschen aufbaut, die dem Bund treu sind, ein Reich von Priestern … und ein heiliges Volk (Ex 19,6). Daher ist Abraham im göttlichen Plan dazu bestimmt, Stammvater einer Menge von Völkern (Gen 17,5; vgl. Röm 4,17–18) zu werden und in ein neues Land zu ziehen, in dem er wohnen soll. Sara, seine Ehefrau, ist jedoch unfruchtbar, sie kann keine Kinder bekommen; und das Land, in das Gott ihn führt, ist fern von seiner Heimat, ist schon von anderen Völkern bewohnt und wird ihm nie wirklich gehören. Der biblische Erzähler hebt dies hervor, wenngleich sehr zurückhaltend: Die Kanaaniter waren damals im Land (Gen 12,6), als Abraham an den von Gott verheißenen Ort kommt. Das Land, das Gott Abraham schenkt, gehört ihm nicht, er ist ein Fremder und wird es immer bleiben, mit allem, was dies mit sich bringt: kein Besitzstreben zu haben, immer die ­eigene Armut zu spüren, alles als Geschenk zu ­betrachten.

Das ist auch die geistliche Verfassung dessen, der sich entscheidet, dem Herrn nachzufolgen, der sich entschließt aufzubrechen und seinen Ruf anzunehmen, im Zeichen seines unsichtbaren, aber mächtigen Segens. Und Abraham, der „Vater der Glaubenden“, nimmt diesen Ruf im Glauben an. Paulus schreibt im Brief an die Römer: Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt, dass er der Vater vieler Völker werde, nach dem Wort: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Ohne im Glauben schwach zu werden, war er, der fast Hundertjährige, sich bewusst, dass sein Leib und auch Saras Mutterschoß erstorben waren. Er zweifelte nicht im Unglauben an der Verheißung Gottes, sondern wurde stark im Glauben und er erwies Gott Ehre, fest davon überzeugt, dass Gott die Macht besitzt zu tun, was er verheißen hat (Röm 4,18–21).

Der Glaube bringt Abraham dazu, einen paradoxen Weg zu beschreiten. Er wird gesegnet sein, aber ohne sichtbare Zeichen des Segens: Er empfängt die Verheißung, ein großes Volk zu werden, aber mit einem Leben, das von der Unfruchtbarkeit seiner Ehefrau Sara geprägt ist; er wird in eine neue Heimat geführt, muss dort jedoch als Fremder leben; und der einzige Landbesitz, der ihm ­gewährt wird, ist ein Stück Land, auf dem er Sara bestatten kann (vgl. Gen 23,1–20). Abraham ist gesegnet, weil er im Glauben den göttlichen Segen erkennt, indem er über den Anschein hinausgeht, auf die Gegenwart Gottes vertraut, auch wenn ­seine Wege ihm geheimnisvoll erscheinen.

Was bedeutet das für uns? Wenn wir sagen: „Ich glaube an Gott“, dann sagen wir wie Abraham: „Ich vertraue dir; ich vertraue mich dir an, Herr“ – aber nicht wie zu jemandem, an den man sich nur in schwierigen Augenblicken wendet oder dem man einige Augenblicke des Tages oder der Woche widmet. Zu sagen: „Ich glaube an Gott“, bedeutet, mein Leben auf ihn zu gründen, zuzulassen, dass sein Wort meinem Leben jeden Tag, in den konkreten Entscheidungen Orientierung gibt, ohne Angst, etwas von mir selbst zu ver­lieren. Wenn im Taufritus dreimal gefragt wird: „Glaubt ihr?“ – an Gott, an Jesus Christus, an den Heiligen Geist, die heilige Katholische Kirche und die anderen Glaubenswahrheiten, dann steht die dreifache Antwort im Singular: „Ich glaube“, weil es mein persönliches Dasein ist, das durch das Geschenk des Glaubens eine Wende erfahren muss; es ist mein Leben, das sich ändern, sich bekehren muss. Jedes Mal, wenn wir an einer Taufe teilnehmen, sollten wir uns fragen, wie wir täglich das große Geschenk des Glaubens leben.

Abraham, der Glaubende, lehrt uns den Glauben; und als Fremder auf Erden weist er uns die wahre Heimat. Der Glaube macht uns zu Pilgern auf Erden, eingefügt in die Welt und in die Geschichte, aber auf dem Weg zum himmlischen Vaterland. An Gott zu glauben macht uns also zu Trägern von Werten, die oft nicht mit der Mode und der Meinung des Augenblicks übereinstimmen; es verlangt von uns, Kriterien und Verhaltensweisen anzunehmen, die nicht zum allgemein verbreiteten Denken gehören. Der Christ darf keine Furcht haben, „gegen den Strom zu schwimmen“, um den eigenen Glauben zu leben, und muss der Versuchung widerstehen, sich „anzupassen“. In vielen unserer Gesellschaften ist Gott der „große Abwesende“, und an seiner Stelle stehen viele Götzen, sehr verschiedene Götzen, vor allem der Besitz und das autonome „Ich“. Und auch die beacht­lichen und positiven Fortschritte von Wissenschaft und Technik haben den Menschen zur Illusion der Allmacht und der Unabhängigkeit verleitet, und eine wachsende Egozentrik hat nicht wenig Ungleichgewicht in den zwischenmensch­lichen Beziehungen und im Sozialverhalten ­geschaffen.

Dennoch ist das Verlangen nach Gott (vgl. Ps 63,2) nicht ausgelöscht, und die Botschaft des Evangeliums hallt auch weiterhin in den Worten und Werken vieler gläubiger Männer und Frauen wider. Abraham, der Vater der Glaubenden, ist auch weiterhin der Vater vieler Kinder, die auf ­seinen Spuren wandeln und sich auf den Weg ­machen, im Gehorsam gegenüber der göttlichen Berufung, im Vertrauen auf die gütige Gegenwart des Herrn und in der Annahme seines Segens, um zum Segen für alle zu werden. Es ist die vom Glauben gesegnete Welt, zu der wir berufen sind, um furchtlos Jesus Christus, dem Herrn, nachzufolgen. Und manchmal ist es ein schwieriger Weg, der auch Prüfung und Tod kennt, jedoch zum ­Leben hin öffnet, in einer radikalen Verwandlung der Wirklichkeit, die nur die Augen des Glaubens sehen und in Fülle genießen können. Zu sagen: „Ich glaube an Gott“, spornt uns also an aufzubrechen, beständig aus uns selbst herauszugehen, genau wie Abraham, um in die tägliche Wirklichkeit, in der wir leben, die Gewissheit zu bringen, die uns aus dem Glauben erwächst: die Gewissheit der Gegenwart Gottes in der Geschichte, auch heute; eine Gegenwart, die Leben und Heil bringt und die uns öffnet für eine Zukunft mit ihm und für eine Fülle des Lebens, das nie vergehen wird.

Generalaudienz vom Mittwoch, 23. Januar 2013. Quelle: https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/audiences/2013/documents/hf_ben-xvi_aud_20130123.html
Bild: Herrad of Landsberg  (1125–1195), Hortus Deliciarum, Der Schoß Abrahams
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