Ich kann nichts bringen außer mich selbst
Anfang des Jahres haben mein Mann und ich unsere Freunde Änni und Thorsten Rühl besucht, die wir schon lange nicht mehr getroffen hatten. Ihr Leben hat sich durch verschiedene Krisen und die Folgen einer Coronaerkrankung von Änni sehr verändert. Als wir bei ihnen im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen und leckere italienische Köstlichkeiten genießen, sagt Änni zu Thorsten: „Kannst du mir bitte ein Stück Baguette abbrechen, mir fehlt dazu die Kraft.“ In diesem Moment bekomme ich eine Ahnung davon, wie sehr sich ihr Leben verändert hat. Er gibt ihr ein Stück Brot, füllt ihren Teller mit den Dingen, die sie mag. Während wir uns weiter unterhalten, spüre ich ihre Verbundenheit und tiefe Liebe zueinander. Sie müssen viel Schweres tragen, doch gleichzeitig strömt mir so viel Liebe und Friede entgegen. Ihr Leben strahlt eine Schönheit aus, die schwer zu beschreiben und vom Kopf her beinahe nicht zu begreifen ist. Bald wird mir klar: Es geht um das Sein. Das „Geliebt-Sein“.
Die Liebe Jesu hat sie durch alle Krisen hindurch zu Menschen geformt, die bereit sind, ihr Leben niederzulegen, auch wenn es sie viel kostet. Sie leben als Geliebte und geben, was sie empfangen. Auf meine Frage, ob sie dazu etwas schreiben könne, antwortete mir Änni: „Ja, dieses Thema ist unser tägliches Brot.“ In ihrem Beitrag nimmt sie uns mit auf diesen Weg. | Carolin Schneider
Änni Rühl – Jedes Jahr beobachte ich im Herbst, wie sich die Blätter von den Bäumen lösen. Der Baum hat eine wirksame Strategie, die kalte und dürre Jahreszeit zu überleben: Er zieht Wasser und Nährstoffe aus den Blättern in Stamm und Wurzeln zurück, die ihm als Reserve im Winter und für den Neuaustrieb im Frühling dienen. Wie eine Decke schützt das Laub den Wurzelteller vor der Kälte.
Ich weiß nicht immer im Voraus, wann ein persönlicher Winter vor meiner Tür steht. Den ungebetenen Gast, von dem ich hier berichte, habe ich nicht erwartet und doch war ich vorbereitet. Denn ich habe Gottes erlösende Hand bereits in vergangenen Winterzeiten meines Lebens wirken sehen: In den eisigen Jahren der schweren Folgen der Traumata meiner Kindheit, dem Tod meiner Schwester, die bei Glatteis die Kontrolle über ihr Auto verlor, und in jenem bitterkalten Winter, in dem unsere Ehe beinahe erfroren wäre.
Was der Feind geplant hatte, um meine Familie und mich zu zerstören, hat Gott genommen, um sein Heil in uns auszubreiten. Was karg und tot war, hat er zu neuem Leben erweckt. Der bewusste Blick in meine Vergangenheit lässt mich Früchte wahrnehmen, die in den dunklen Zeiten meines Lebens gewachsen sind. Sie dienen mir als Vorrat in diesem langen Winter.
Was vor dreieinhalb Jahren mit einer Coronainfektion begann, ist zu einem Leben in engen Grenzen geworden. Bei mir wurde ME/CFS, das Chronische Fatigue Syndrom, diagnostiziert; mein Körper hat eine Störung in der Energiegewinnung. Er befindet sich im Energiesparmodus, wie ein Baum während der Winterruhe. Oder im Bild eines defekten Akkus: Mein Akku lädt nur noch 20 Prozent, er entlädt sich rasch und braucht lange, bis er wieder aufgeladen ist.
Mein Mann Thorsten trägt seitdem die Hauptlast unserer Aufgaben. Er hat seine Führungsverantwortung als Personalleiter gegen eine Arbeit eingetauscht, die mehr Ruhe in unser Leben und unsere Herzen bringt. Unsere Tochter Ida ist an meiner Seite in den vielen kleinen Dingen des Alltags. Die beiden wechseln sich mit Arbeit und Studium ab, damit immer jemand bei mir sein kann. Am Tiefpunkt der Krankheit wurde mir Pflegegrad 3 zugesprochen, mit 47 Jahren und einem Körper, der sich jenseits der 80 anfühlt.
Mein Platz ist auf dem Sofa. Das Haus verlasse ich sehr selten. Genauso reduziert sind meine sozialen Kontakte, denn Gespräche sind sehr anstrengend für mich. An guten Tagen kann ich etwas lesen und schreiben und ein paar leichte Handgriffe im Haus erledigen. An weniger guten Tagen liege ich auf dem Sofa und bin einfach.
Überflüssiges, aber auch sehr viel Wertvolles verliert seinen Platz. In mein Leben passt nur noch wenig hinein, es ist langsam und sehr leise geworden. Beziehungen, Tätigkeiten, Fähigkeiten, Begabungen und Möglichkeiten, die ich liebe und die mich, meine Persönlichkeit und Identität ausmachen, sind nicht mehr oder nur noch bedingt.
Ich fühle mich limitiert und kahl wie der Baum im Winter; doch ich spüre Gottes Einladung, meine Armut anzunehmen, diese dunkle Jahreszeit zu umarmen und sie mit ihm zu verbringen. Es ist seine Tiefe, die zu meiner Tiefe ruft, wie es Psalm 42,8 so wunderschön ausdrückt. Er spricht zu meinem wahren Selbst, der Person, die ich im Innersten bin, und lenkt meinen Blick zu meinen Wurzeln, die alles andere – Äste, Blätter, Früchte und Schatten – überhaupt hervorbringen.
Mein Glaube wurde durch vergangene Winterstürme schwer erschüttert. Ich hätte ihn manches Mal zu gern links liegen gelassen. Ich habe Gott in meinem Schmerz angeschrien und er hat mir für mein Vertrauen gedankt. Ich habe mit Gott gekämpft und er hat mich gewonnen. Er hat mich von seiner Liebe überzeugt und von seiner Güte. Jesus hat für mich gebetet, dass mein Glaube nicht aufhört, sonst würde ich heute diese Zeilen nicht schreiben.
In diesem Winter ist mein Weg zu Gott nicht weit. Ich schreibe kleine Psalmen. Ich habe eine Sprache gefunden, die ausdrücken kann, was ich fühle. Ich bin vor Gott, in der Wahrheit meines Herzens. Ich klage. Ich identifiziere und benenne meine Gefühle. Ich stelle ihm Fragen. Ich möchte seine Gedanken über mich kennen. Seine Antworten sinken tief in mein Herz. Seine Stimme formt mich. Er spricht Worte des Lebens über mir aus. Er begegnet mir dort, wo ich ihn so dringend brauche, und ich flüstere ihm dankbar meinen Lobpreis zurück.
Gott und ich kultivieren Freundschaft. Es wächst eine enge, vertraute Beziehung, es wächst Liebe. Er hat mich zuerst geliebt, sowieso, aber meine Liebe zu ihm wird wieder heiß in diesem kalten Winter.
Mein Leben ist nicht mehr dasselbe. Ich habe viel verloren, deshalb nehme ich mir Zeit, um zu trauern. Trauern hilft mir, mich dem Leben zuzuwenden, das ich jetzt habe. Ich bin dankbar für Tränen. Sie sind Gottes Heilmittel, die den Boden meines Herzens weich halten und eingefrorene Emotionen wieder auftauen lassen. Ich brauche ein Gegenüber, das meinen Schmerz anerkennt. Ich liebe es, wenn Gott seinen süßen Trost über mir ausgießt und bin dankbar für Menschen, die mir Trost spenden, ohne persönlich bei mir sein zu können. Durch eine kleine Nachricht kommen sie in Sanftheit an meine Seite. Getröstet zu werden gehört für mich zu den wertvollsten Erfahrungen meines Lebens. Ich bin nicht allein in meinem Schmerz und so bin ich nicht versucht, ihn zu verleugnen oder mich zu isolieren. In meinem Herzen kann neue Hoffnung wachsen.
„Was ist echt?“ fragt der Samthase das alte Spielzeugpferd.
„Echt ist nicht, wie du gemacht bist“, sagt das Fellpferd. „Es ist etwas, das mit dir geschieht. Wenn ein Kind dich lange, lange Zeit liebt, nicht nur zum Spielen, sondern wirklich liebt, dann wirst du echt.“
„Tut das weh?“, fragt der Samthase weiter.
„Manchmal…“ „Es passiert nicht auf einmal“, sagt das Pferd. „Du wirst. Es dauert eine lange Zeit. Wenn du echt bist, sind dir in der Regel die meisten Haare ausgefallen, deine Augen fallen aus, deine Gelenke werden locker und du bist sehr schäbig. Aber das macht nichts, denn wenn man erst einmal echt ist, kann man nicht mehr hässlich sein, außer für Leute, die es nicht verstehen.“
Der kleine Samthase aus dem Bilderbuch von Margery Williams hat diese wundervolle Verbindung zwischen „geliebt werden“ und „echt werden“ verstanden.
Ich finde keine Abkürzung und keinen schmerzfreien Weg durch die Winter meines Lebens. Ich brauche Mut zu lieben und mich lieben zu lassen. Die Liebe von Gott und Menschen hat sichtbare Spuren bei mir hinterlassen. Von meinem einst so schönen Samtstoff ist nicht mehr viel übrig. Er ist abgewetzt und der Unterstoff ist freigelegt. Wahr ist aber auch, dass ich mich lebendiger und mehr ich selbst fühle als je zuvor. Mein falsches Selbst, das sich durch Nützlichsein und das Joch, etwas sein zu müssen, durch Vergleichen und übertriebene Verantwortungsübernahme zeigte, stirbt. Ich lerne zu empfangen. Ich lerne zu sein. Ruhe erlebe ich nicht nur äußerlich, sondern ich finde Ruhe für meine Seele. Mehr und mehr lebe ich aus diesem bedingungslosen Geliebtsein heraus, wo ich nichts bringen kann, außer mich selbst.
Mein Schöpfer, der den Schnee in Existenz sprach, sich Saat und Ernte, Frost und Hitze, den Tag wie die Nacht ausdachte und den Wechsel der Jahreszeiten anordnete, hat mich und meine Zeit in seiner Hand. Diese Hand ist mein Boden; die Liebe selbst. In dieser Liebe bin ich gegründet. In diesem Land des Geliebtseins wohne ich und breite mich aus. An diesem Vaterort wachse und gedeihe ich, wie der Baum, der am Wasser gepflanzt ist; und ich bringe Frucht zur rechten Zeit.
Noch trägt der Feigenbaum keine Blüten, und der Weinstock bringt keinen Ertrag, noch kann man keine Oliven ernten, und auf unseren Feldern wächst kein Getreide. Und doch will ich jubeln, weil Gott mich rettet, der HERR selbst ist der Grund meiner Freude! (Habakuk 3,17)
Änni Rühl ist verheiratet mit Thorsten und Mutter von zwei erwachsenen Töchtern. Vor der Erkrankung war sie als Erzieherin und Christliche Beraterin tätig.
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