
Mittendrin
„Du hast noch keine Sorgen“ sagte oft meine Großmutter zu mir mit wehmütigem Unterton, als ich klein war. Ich wusste nicht, was Sorgen sind, aber ich ahnte an der Art, wie sie es sagte, dass da wohl mit zunehmendem Alter etwas unergründlich Lästiges und Unangenehmes
auf mich zukommen würde.
Sorge hat keinen guten Ruf. Schon gar nicht unter Christen. Mehr Vertrauen wäre nötig. Loslassen. Auf ihn werfen. In der Wortbedeutung kommt die Sorge sehr ambivalent daher. Ein „bedrückendes Gefühl der Unruhe und Angst…“ und ebenso das anteilnehmende „Bemühen, um das Wohlergehen eines anderen“ (Wiktionary).
Die Sorge hat also neben dem „bedrückenden Gefühl“ noch ein ganzes Spektrum an positivem Um-, Vor- und Fürsorgen im Gepäck. In manchen Sprachen werden die unterschiedlichen Aspekte der Sorge in mehreren Worten ausgedrückt (z. B. im Englischen to worry, to concern, to take care). Im Deutschen sind sie gebündelt und zusammengefasst unter einem Dach. Dieses Verwobensein von tätigem Umsorgen und erdrückendem Besorgtsein erlebe ich in Reinform, seit ich Mutter bin. Mit der Geburt unseres ersten Kindes kam auch eine neue Art von Liebe und eine andere Dimension von Sorge zur Welt. Dieses kleine Wesen war so angewiesen auf meine Fürsorge, so bedürftig und existentiell ausgeliefert. Und ich war die einzige Mama, die es hatte. Wie Millionen Mütter dieser Welt erlebte ich, dass Liebe und Sorge dabei schier untrennbar miteinander verbunden sind. Dieses Liebes-Sorgen setzte ungeahnte Kräfte frei und riss mich aus dem Kreisen um eigene Bedürfnisse und Befindlichkeiten hin zu einer kraftvollen und hingebungsvollen Liebe.
Nach vielen Liebes-Sorgen-reichen Jahren sind unsere Kinder dabei, das Nest zu verlassen oder mindestens Flugübungen zu machen. Und mitten in dieser Zeit begann meine Sorge sich auf einmal zu verselbständigen. Eins unserer Kinder war in eine Krise geraten. Es wurde mitten im Flug aus der Kurve geschleudert. Unerwartet und lange unerkannt. Als ich es schließlich sah, war das der Moment, als meine Sorge anfing, Amok zu laufen. Es war, als hätte sie sich losgerissen. Als hätte sie ihre Anbindung und damit auch ihr Maß verloren. Sie kam mit Wucht. Sie kam in der Nacht. Sie ließ den Körper verspannen, Gedanken Karussell fahren und brachte das Herz aus dem Takt. Sie hat alles aufgefahren, was sie im Repertoire hatte. Und sie legte sich wie eine schwere Decke über alles innere und äußere Erleben.
Sie wäre zum Äußersten bereit gewesen, um nur zu retten, zu schützen, zu bewahren, zu heilen. Aber sie wurde und wird immer wieder aufs Neue schonungslos konfrontiert mit der eigenen Ohnmacht.
Eine Sorge, die nicht tätig, fürsorgend und helfend sein kann, sondern radikal auf ihr „einfach“ Aushalten und Mit-Tragen geworfen ist, fühlt sich für mich an wie ein Riesentier, das in ein zu enges Zimmer gesperrt worden ist. Wie viel emotionale Kraft Aushalten braucht! Ziehen, Drücken und Schieben ist so viel leichter. Meine Energie für Alltagsaufgaben begann zu schwinden. Wie kann ich mich um alltägliche Banalitäten kümmern, solange unser Kind leidet?
Erschreckt nahm ich nach einiger Zeit wahr, dass sich etwas verschoben hatte. Durch meine Sorgen-Unwucht hatte ich unmerklich begonnen, selbst zunehmend zum familiären Stress beizutragen. Meine Reaktion war zu einem eigenen Problem geworden. Irritiert bemerkte ich, dass mein Mann sich inzwischen um mich sorgte.
Wie aus weiter Ferne nehme ich altbekannte und längst gewusste Wahrheiten wahr: Die größte Hilfe für meine Familie bin ich, wenn ich „bei mir“ und nicht „außer mir“ bin. Es ist wichtig, für mich zu sorgen, danach zu schauen, dass ich im Gleichgewicht bin… Es ist ein Trugschluss zu denken, es könne mir erst gutgehen, wenn alle anderen ver-sorgt und glücklich sind.
Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, wie das ohne Jesus geht. Wohin so ein wildgewordenes Sorgentier sonst galoppieren könnte. Nein, ich bin in dieser Zeit kein Beispiel für Gelassenheit und entspanntes Gottvertrauen. Für viele Dinge habe ich momentan nur eine begrenzte emotionale Kapazität. Ohnmacht und Kontrollverlust sind nicht gerade religiöse Hochgefühle. Und ich bin auch nicht an einem Punkt angekommen, an dem ich weise wissend und milde lächelnd zurückschaue und leicht und locker der nächsten Kinder-Herausforderung entgegenblicke.
Ist da zu viel Sorge? Ohne Frage! Würde ich gerne jetzt und bei jedem weiteren Mal viel tiefer darauf vertrauen, dass ER das Leben meiner Kinder in der Hand hat? Auf jeden Fall! Muss ich Selbstfürsorge mühsam lernen und einüben? Definitiv!
Und doch hat sich seit einiger Zeit auch noch etwas anderes, zartes und überraschendes dazu gesellt. Eine Ahnung, ein vorsichtiges Erkennen. So, als würde ER sagen: „Auch das ist von mir. Auch diese Sorge verbindet dich mit mir. Ich kenne sie. Ich fühle sie auch. Mitten in der Sorge bin ich. Deine wilde Mutter-Sorge ist auch ein Stück von mir. Auch ich sorge liebend. Und liebe sorgend - bis zum Äußersten.“
Das ist ein überraschend tröstlicher Gedanke. Mein Sorgen-Tier bekommt nicht den Stempel „unerwünscht“, „ungeistlich“, „unnütz“, sondern eine liebevolle Rück- und Anbindung an den, von dem es heißt, dass er die Mutterschafe sorgsam und fürsorglich führen wird (Jesaja 40,11).
Ein Wort, das mir in der letzten Zeit immer wieder hilft ist: „Anstatt mir Sorgen zu einer bestimmten Situation zu machen, will ich öfter mal zu Gott sagen: ‚ICH BIN GESPANNT, WAS DU DARAUS MACHEN WIRST!‘ Und das macht mich tatsächlich gelassener. Nicht so sorgenvoll, sondern einfach nur neugierig.“ (Christina Schöffler)
Das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Ich stehe noch mittendrin. Aber mittendrin ist auch Jesus. Und mittendrin ist deshalb auch Hoffnung. Oh, ich liebe Hoffnung.