Frau vor leeren Wand an einem Schreibtisch sitzend

Ich schenke mir Aufmerksamkeit

Kopf und Herz im Widerstreit

Ich sitze an unserem großen Esstisch und schreibe Tagebuch.
Die angebissenen Brotrinden und trocknenden Kaffeeränder vom Familienfrühstück müssen noch einen Moment warten. Im Hintergrund läuft Musik, ich nehme sie kaum wahr, bin ganz in Gedanken versunken. Plötzlich überkommt mich wachsende Beklemmung und tiefe Verunsicherung, die große Irritation auslöst. „Was ist los mit mir?“ Das Lied, das bis eben belanglos im Hintergrund dudelte, hat eine tief vergrabene Erinnerung an eine Situation geweckt, deren Schrecken mir offensichtlich immer noch tief in den Knochen sitzt. Es liegt nicht mal am Lied selbst, es stellt in diesem Moment lediglich die Verknüpfung zu dem her, was mich in tiefen Aufruhr versetzt hatte, als es damals im Hintergrund lief.

Aufsteigenden Impulsen begegnen

Inzwischen weiß ich: wann immer meine Reaktionen heftiger ausfallen, als es der Situation im Hier und Heute angemessen ist, deutet dies auf etwas Bedeutsames aus meiner Vergangenheit hin. Ich habe gelernt, diesen jähen Verunsicherungen und Erschütterungen im Alltag zu begegnen. Ich habe Hilfsmittel gefunden, die mich erden, wenn mich meine Vergangenheit einholt und ich von unerklärlichen Gefühlen überrumpelt werde. Dafür gehe ich, wenn es mir möglich ist, gerne in den Wald. Dort ist es still und ich werde nicht von meinen Kindern oder Verpflichtungen abgelenkt. Hier kann ich die Empfindungen sortieren.

  • Da gibt es Emotionen, die mich auf eine tiefliegende Traurigkeit, Hilflosigkeit, Unsicherheit oder Wut hinweisen.
  • Da gibt es das Körpergefühl, dem Unruhe, Anspannung, Schwere oder Erschöpfung zugrunde liegt.
  • Da melden sich innere Ankläger, die mir vorwerfen, in dieser und in jener Situation zu voreingenommen, zu ungerecht, zu distanziert oder zu oberflächlich gewesen zu sein.
  • Oder innere Antreiber, die mehr Geduld, Stärke oder Realitätsbezug fordern.

All diese Empfindungen tragen eine Botschaft an mich heran. Ich bezeichne sie hier als „innere Stimme“. Sie alle brauchen meine Aufmerksamkeit, denn ihre Botschaften sind wichtig für mich, selbst dann, wenn ihre Hinweise weh tun. An manchen Tagen möchte ich sie am liebsten mit einem gezischten „keine Zeit“ zum Schweigen bringen, aber ich lerne, ihnen mehr und mehr Raum zu geben und sie zu verstehen.

Die innere Landkarte studieren

Ich sehne mich nach einer größeren inneren Verbundenheit zwischen meinem Kopf und meinem Herz. Sie scheinen doch manches mal recht unverbunden zu funktionieren und widersprüchliche Signale zu senden. Wenn etwa das Herz vor Schmerz aufschreit, teilt der Kopf das Geschehene rational in kleine, verdaubare Portionen auf. Es geht nicht darum, ob Kopf oder Herz richtig oder falsch liegen oder wem ich nun Glauben schenken soll. Beide sind berechtigt, so zu reagieren, wie sie es tun. Die Frage lautet vielmehr, was sie mir jeweils „vermitteln“.

Ich nehme mir bewusst Zeit, um meine innere Landkarte zu studieren - meine Geschichte, meine Prägungen, meine Grenzen, meine Sehnsüchte. Ich will nicht nur halb leben, nur die halbe Wirklichkeit fühlen, sondern mich der ganzen Bandbreite meiner Empfindungen stellen. Den guten aber eben besonders auch den schweren. Ich unterteile meine inneren Stimmen nicht in gut und böse, warm und kalt - dadurch würden sich nur die Risse in mir vergrößern, die noch nicht zugeheilt sind. Gerade meine innere Not, meine alten Verletzungen und meine Unsicherheiten verdienen meine volle Aufmerksamkeit. Statt sie in den Hintergrund zu drängen, begegne ich diesen Anteilen mit Verständnis und Milde. Nehme sie wahr, ohne sie zu bewerten oder über sie zu urteilen. Lasse die Emotion und Situation stehen, so wie sie ist, ohne sie gleich ändern zu wollen oder von mir zu schieben. Es gibt mir Kraft, meinen Ist-Zustand anzunehmen, weil ich dann keine Kraft mehr daran verschwende, mich gegen unliebsame Gedanken und Gefühle zu wehren.

Leitfragen, die mir dabei helfen, lauten „Was fühle ich?“ (z. B. Irritation, Anspannung, Ohnmacht) und „Was brauche ich?“ (z. B. frische Luft, Bewegung, ein Schluck Wasser, Tagebuch, Stille, Lieblingsplaylist).

Das Hinhören und Nachspüren ist nicht immer und überall möglich oder hilfreich. Wenn Alltagssituationen meine volle Konzentration erfordern, schnelles Reagieren, Zuwendung und Geduld, dann muss das, was sich meldet, eben bis zum Abend warten.

Das Ungelöste Jesus hinhalten

Manchmal steigen Empfindungen oder Gedanken in mir auf, für die ich (noch) keine Worte habe. Gerade diese Dinge halte ich gerne Jesus hin. Er kennt mich besser als ich selbst. Er kennt alle Details meiner Vergangenheit, die verborgenen und die offensichtlichen - jeden Gedanken, jede Sehnsucht, jede alte Wunde und jede aktuelle Herausforderung. Er kennt auch mein Kopf-Herz-Dilemma, und ich lerne, darauf zu vertrauen, dass ich in ihm mit mir selbst verbunden bin. Auch dann, wenn ich nur im Kopf weiß, dass er immer und überall gegenwärtig war, während mein Herz seine Präsenz in den Erinnerungen an meine Vergangenheit nicht immer wahrnehmen kann. Fakt ist, er ist da, ob ich ihn spüre oder nicht. Er freut sich, wenn ich ihn einlade, mich bei der Entdeckung meines Inneren zu begleiten. Er hilft mir die Bereiche zu erhellen, die noch in der Dunkelheit liegen.

Aus der Trauma-Arbeit und aus der Lektüre über Hirnforschung habe ich gelernt, wie viel Macht unterdrückte Emotionen, Gedanken und Erlebnisse haben. Um sie ans Licht zu holen und zu verstehen, brauche ich viel Zeit, Kraft und Mut. Aber die Reise lohnt sich, und ich merke, dass es in den letzten Jahren heller geworden ist in mir. Die Risse sind kleiner geworden, während meine Lebendigkeit und Ganzheit wachsen.

Ich bleibe dran an dieser Entdeckungsreise und bin gespannt, welche Welten, Ressourcen und Erkenntnisse sich mir auf dieser Reise noch erschließen.

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