Eine Menschenpyramide. Der Mensch an der Spitze leuchtet.

Die Luft wird dünner

Vom Ringen mit der Einsamkeit in der Leitung

Bevor ich mein Amt als Prior der Kommunität ­antrat, hörte ich immer wieder den Satz: „Da oben ist man einsam“, „Macht macht einsam“ oder „Die Luft wird dünner, je höher man kommt“ – und, wie manche ergänzen würden: auch eisiger.


Ja, es gab Einsamkeitsmomente, doch jene angekündigte und bedrohliche Einsamkeit habe ich nicht so erlebt. Wir pflegen in unseren Leitungsgremien ein ehrliches Anteilgeben und -nehmen auch am persönlichen Ergehen. Wir teilen, was uns in Bezug auf die Gemeinschaft Freude und Sorgen bereitet. Dieses Miteinander war von Gefährtenschaft und von einem gemeinsamen Tragen geprägt. Und doch musste ich bei Entscheidungen Verantwortung übernehmen und jedem – auch oder insbesondere Gott – Rechenschaft geben über Gelungenes und Misslungenes. Diese Verantwortungseinsamkeit konnte ich nicht delegieren. Sie habe ich vor Gott bewegt und immer wieder dankbar Trost und Zuspruch empfangen.

Selbstgewählte Einsamkeit

Im Rückblick erst merke ich, dass mir ein gewisses Moment von Einsamkeit nicht erspart blieb, allerdings war es selbstgewählt – als Schutz gewissermaßen. Das kam vor allem darin zum Tragen, dass ich am Ende meiner Leitungszeit Themen, Menschen und Feste mit einer zunehmenden inneren Distanz erlebte. Freude und Leid rauschten manchmal einfach an mir vorbei. Was war passiert?

Wenn Worte schwerer wiegen

Eine der ersten Distanzerfahrungen in meiner Anfangszeit als Prior war: Die Unbedarftheit war fort. Meine Worte bekamen auf einmal ein eigenes Gewicht. Ich neige dazu, Scherzhaftes ernsthaft und Ernsthaftes wie nebenbei auszusprechen. Das führte anfangs zu der einen oder anderen Irritation – die es dann wieder einzufangen galt. Nun wollten meine Worte mit mehr Bedacht gewählt sein, ich musste abwägen, was sie tatsächlich bedeuten und welche Auswirkungen sie haben könnten. Alles ging nun durch einen Filter hindurch. Filter trennen – egal wie durchlässig sie sind.

Der Anspruch, ein guter Leiter zu sein

Hinzu kam der eigene Anspruch: Ich wollte ein guter Leiter sein. Und ein guter Leiter ist in der Lage, sich von Gott und der Sache leiten zu lassen. Meine Gefährten sollten einen gefassten, der Sache verpflichteten Prior erleben. Einen, dessen Emotionen und Befindlichkeiten einer guten Unterscheidung und Entscheidung nicht im Wege stehen. Einen, der das Eigene möglichst außenvor lässt – um des Auftrags willen. Selbst bei Kritik an mir oder einer Entscheidung wollte ich mich außenvor lassen und das berechtigte Anliegen zulassen. Wie ich mich selbst in der Anklage fühlte, sollte sekundär bleiben.

Der Filter – nach außen und nach innen

Aber auch zu mir selbst baute ich einen Filter auf, der mit der Zeit immer dichter wurde. Wohin mit all dem Zweifel, der Ohnmacht, der Unsicherheit, dem Nichtwissen und der eigenen Unfähigkeit, die mich gelegentlich einholten? Manches konnte ein guter Mentor und Begleiter abfangen oder in fruchtbare Bahnen lenken. Manches aber blieb bei mir. Damit mich die damit verbundenen Gefühle nicht zerfraßen, hielt ich mir die Dinge lieber vom Leib – und so ging ich auch zu mir selbst auf Distanz.
So wie das Unangenehme nicht an mich herankam, so wurde auch ich mir zunehmend fremd. Freude und Frust flogen an mir vorbei. Nur weniges konnte an mir haften. Aber nicht nur das: Auch um die Nähe zu Gott musste ich mehr ringen. Wo ist er? Kann ich ihn noch hören? In diesen Momenten half es mir, an der Gewissheit festzuhalten: Auch wenn ich ihn nicht spüre – ER ist da und wirkt. Die Wüstenväter (3. Jh.) pflegten zu sagen: „Keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis.“
Meine Selbsterkenntnis wurde etwas trübe – und damit auch die Gottes­erkenntnis. Nach diesen Jahren wurde für mich das beste Gegenmittel nicht die Gemeinschaftsfülle, sondern die bewusst gewählte Einsamkeit auf dem Fahrrad. Die erste große Tour mit dem Fahrrad - vom Odenwald in die Westsahara - war der Anfang eines Weges, wieder „normaler“ zu werden (nachzulesen in Hoffen 1/2025). Ein Glück, dass das Amt des Priors in der OJC zeitlich begrenzt ist. Mir schwante schon zu Anfang, dass man im Laufe der Zeit komisch wird.

Die doppelte Seite des Schutzes

Wenn ich auf diese Jahre zurückblicke, verstehe ich einiges – anderes liegt noch im Dunkeln. Die Schutzfunktion hatte eine funktionale und eine dysfunktionale Seite. Sie schützte mich, ich konnte handlungsfähig bleiben, sie führte aber auch zu einer emotionalen Abkapselung, bei der mir der Bezug zu mir selbst etwas abhandenkam.

Ein Jesuswort, das trägt

Was mir in der ganzen Zeit aber nicht abhandenkam, ist ein Wort, das Jesus mir zusprach – meine Epiphanie. Im dritten Leitungsjahr erlebte ich eine tiefe Not. Ein scheinbar unlösbarer Konflikt, gekoppelt mit Verletzungen und einem Fehler meinerseits, führte mich eines Nachmittags in den Wald. Frustriert warf ich Jesus die Frage vor die Füße, warum er mir dieses Leitungsamt zumutet. Ich war nicht auf eine Antwort vorbereitet – eher auf einen inneren Monolog, der in die Länge und Leere führte. Da hörte ich ihn in aller Deutlichkeit sagen: „Ich mute dir das zu, weil ich dich liebe.“
Ein Satz, der saß, sich tief in mein Herz pflanzte und mich durch alle Höhen und Tiefen der folgenden Jahre begleitete. Er half mir, das Erlebte, die Empfindungen und die Ereignisse, die ich wahrnahm und zum Teil verstand oder eben auch nicht, anzunehmen und wahr sein zu lassen. Es war jener Satz, der eben nur in dieser Einsamkeitserfahrung kam und den ich im Rückblick gegen nichts in der Welt eintauschen möchte. Es war der Satz, der für mich eine Antwort war, oder wie Friedrich Nietzsche es formulierte: „Wer ein Warum zum Leben hat, der erträgt fast jedes Wie.“

Wieder nahbar – verletzlich sein und werden wie ein Kind

Was hilft mir heute? Alleine es meinen engsten Gefährten zu erzählen und diesen Artikel zu schreiben, bedeutet, wieder durchlässiger und verletzlicher zu werden. Zudem lerne ich wieder von Kindern: Sie sind das Gegenteil von dem, was ich lange gepflegt habe. Sie sind „filterlos“, unmittelbar und echt. So wie sie sich fühlen – so zeigen sie sich. Das will ich wieder lernen. Umso mehr genieße ich die Zeit hier in Greifswald mit den vielen Kindern in unserem Haus. Es ist mir eine wahre Freude, diese vernachlässigte Seite wieder aufleben lassen: Blödsinn machen, Scherzhaftes ernsthaft und Ernstes lustig zum Ausdruck bringen.

Macht Macht einsam?

Macht Macht einsam? Es kommt darauf an. Die Einsamkeitserfahrung im Leitungsamt hat sicher viele Faktoren – und hat doch im Wesentlichen mit einem selbst zu tun. Ob wir einsam bleiben oder nicht, entscheidet sich unter anderem an der Frage: Vor wem kann ich mich verletzlich zeigen? Vor wem kann ich sein, wie ich bin?