Marsha und Aaron Nölling

Es wird alles gut. Nur anders.

Leben mit einem Kind ohne viele Worte

Unser jüngster Sohn Aaron kam als gesunder kleiner Junge auf die Welt. Die Freude über unsere wachsende Familie war groß. Als er etwa anderthalb war, fiel uns auf, dass er nicht wie andere Kleinkinder anfing zu brabbeln. Mit dem Tempo der anderen konnte er nicht mithalten. Gegenüber anderen Müttern fühlte ich mich mit einem Kind, das in der Entwicklung langsamer war, zurückgelassen. Die Wege ihrer Kinder waren vorhersehbar, unser Weg musste errungen und entdeckt werden.


Die Ärzte sprachen von „Late Talker“. Diese Diagnose begleitete uns einige Jahre. Die Aussicht, Aaron würde irgendwann sprechen, gab uns viel Hoffnung. Eines Tages würde er schon reden… Der Gedanke, dass er sprachlos bleiben könnte, hatte wenig Raum. So konnte meine Seele auch keine weiteren Schritte gehen. Wir begannen mit Logopädie, suchten unterschiedliche Ärzte auf. Doch viele Fragen stellten sich: Was ist der nächste Schritt? Welche Ärzte können uns helfen? Welche Logopäden sind die besten? Wie können wir unseren Sohn optimal fördern? Meine eigene Befindlichkeit trat völlig in den Hintergrund.

Eine Freundin, deren Tochter auch erst spät zu sprechen anfing, war mir in dieser Zeit eine wichtige Begleiterin. Sie konnte verstehen, wie es mir ging und setzte sich mit den gleichen Fragen, Ängsten und Themen auseinander. Sie wurde meine Verbündete. In der Gemeinschaft war ich mit vielen eng verbunden und doch konnten nur wenige nachvollziehen, wie anders sich unser Leben gestaltete. Das machte mich in gewisser Weise einsam, trotz der vielen Menschen um mich herum.

Die Diagnose einer „geistigen Behinderung“ kristallisierte sich mehr und mehr heraus. Schon vorher hatte Gott einen Moment gewählt, in der aus der Ahnung Gewissheit wurde und sie in mein Herz rutschte. Er mutete mir das in einer Nacht ganz ungeschminkt zu. Gleichzeitig war er mir nah als sorgender und mitfühlender Vater. Ich schlief die ganze Nacht nicht, weinte und betete. Danach war nicht alles klar oder leicht, aber etwas hatte sich verändert. Ich begann langsam, meine Wirklichkeit zu umarmen und übte mich darin, diese Realität anzunehmen. Das war noch ein langer Weg, mit immer wiederkehrenden Phasen der Trauer und des Loslassens von meinen Lebensentwürfen für Aaron.

Gottes „gut“ und mein „gut“

Demgegenüber stand Aarons überaus fröhliche und liebenswürdige Art: Er strahlte immerzu, war aufgeschlossen allen Menschen gegenüber und wurde sehr gemocht und integriert. Er hatte seinen festen Platz in der Gruppe der OJC-Kinder. Wenn sie gemeinsam spielten, war Aaron dabei und spielte mit. Eine seiner Stärken ist seine soziale Seite und sein freundliches Wesen. Es fiel ihm immer leicht, Kontakte zu knüpfen und er kommunizierte auf seine Weise - ohne Sprache. Das half meinem Mutterherzen sehr, denn ich erlebte, dass es ihm gut ging. Später gab es Momente, die für ihn und auch für mich schwerer auszuhalten waren: Die Unterschiede in der Entwicklung wurden größer. Auch Sprache wurde als Kommunikationsmittel wichtiger.

Lange Winternachmittage habe ich mit Aaron immer wieder Uno gespielt, geknetet und sprechen geübt, während andere Eltern zusammensaßen und die wichtigen Dinge und Themen der OJC und der Welt diskutierten. Oft fragte ich mich, wie anders vieles sich entwickelt hätte, wenn Aaron gesund wäre. Andere Mütter, deren Kinder größer wurden, konnten mehr und mehr Verantwortung in der OJC übernehmen. Ich blieb gefühlt zurück. Aaron würde immer wie ein Kleinkind bleiben und betreut werden müssen.

Um mich herum gab es kaum Mütter, mit denen ich meinen Schmerz teilen konnte. Immer wieder überfiel mich das Gefühl, allein zu sein. Mir halfen die Tagebücher von Bianka Bleier, in denen sie viel über ihren Sohn mit Behinderung schrieb. Ihre Bücher begleiteten mich und ich war froh, quasi eine Verbündete gefunden zu haben. Es tat so gut, dass da ein Mensch meinen Schmerz kannte und teilte.

Von Anfang an hatte Jesus mir versprochen, dass alles gut wird. Ich hatte aber konkrete Vorstellungen, wie dieses „gut“ auszusehen hat. Ich betete viel und flehte Gott an, Aaron zu heilen. Doch in meinem Herzen blieben diese Worte: „Es wird alles gut.“ Gottes „gut“ war allerdings anders als mein „gut“. In den Momenten, in denen ich mir am meisten Sorgen machte und keinen Weg sah, tat sich immer wieder Neues auf. Gott hatte das unvorstellbar Beste für Aaron schon vorbereitet. Er durfte auf eine freie christliche Schule gehen, in der er inklusiv mit Schulbegleitern beschult wurde. Das hat ihn hervorragend gefördert. Wenn Freundschaften nicht weitergingen, schickte Gott Menschen, die ihm guttaten. Später fand er seinen Platz bei den Royal Rangers in der Jugendgruppe der FCG Gersprenztal. Aaron liebt und kennt Jesus auf seine Art und bekannte ihn mit einem lauten „Ja“ als er sich mit 15 taufen ließ. Wenn ich mit meinem Aktivismus, Aaron alles zu ermöglichen, an Grenzen stieß, übernahm Gott das Steuer und machte das noch Bessere daraus.

Gleichzeitig war das mit dem Vertrauen auf Gott nicht immer meine Stärke. Es gab Momente, in denen er mir fern war, ich mich alleine gelassen und einsam gefühlt hatte, weil sein „gut“ nicht meines war. Ich musste oft lernen, die Zügel loszulassen und sie Gott zu übergeben. Rückwirkend sehe ich die Segensspuren in unserem Leben. Doch mittendrin fühlte ich mich oft unverstanden beim Immer-erklären-Müssen, dass unser Weg an manchen Stellen einfach anders ist.

Mit Aaron zu reden ist bis heute relativ einseitig, auch wenn er inzwischen fast erwachsen ist und mit Fünf-Wort-Sätzen samt Gesten kommunizieren kann. Ich liebe unseren Sohn so wie er ist. Er ist ein Geschenk des Himmels mit der Freude und dem Humor, die er in unsere Familie bringt.