Mann auf einer Leiter in den Himmel

Wenn der Himmel schweigt

Einsam vor Gott

Wir hören oft davon, dass Gott mit uns Gemeinschaft haben möchte. Wir reden viel darüber, wie Gott zu uns redet. Doch was ist, wenn da scheinbar nichts bzw. niemand mehr kommt? Wenn Gottes Unsichtbarkeit mich allein zurücklässt? Das Bibellesen leer und mühsam bleibt? Das Beten an der Zimmerdecke zu enden scheint? Wir flehen und warten, dass Gott handelt, tröstet, heilt oder redet. Gott aber schweigt. Kein Zeichen, keine Offenbarung, nicht einmal eine Andeutung.
Mir geht es in diesem Zusammenhang gar nicht um die große und wichtige Leid-Frage, sondern um die gewöhnlichen und doch ganz existentiellen Erfahrungen, dass Gott in bestimmten Lebensphasen oder bei konkreten Themen weit weg scheint. Ich fühle mich gegenüber Gott einsam. Ich empfinde, dass er mich allein lässt. Angst macht sich breit. Leere. Wir haben ja immer seine Schöpfung, sein Wort, seine Sakramente, seine Gemeinde, seine Gottesdienste usw., aber es dringt nicht zu mir durch. Er dringt nicht durch. Einsam bleibe ich zurück.


Solche Zeiten habe ich immer wieder erlebt. Nach meiner Schulzeit war ich für einen Freiwilligendienst in Israel. Alles war neu für mich. Wie sehr brauchte ich da die Geborgenheit in Gott. Aber der Glaubenshalt war irgendwie verflogen. Mehrere Wochen rang ich mit dieser Unsicherheit und suchte Gottes Nähe. Bei einem Spaziergang durch Jerusalem fiel mein Blick schließlich auf ein amerikanisches Auto. Ich las einen Aufkleber am Heck: „Fear Not!“ Das erinnerte mich sofort an ein Lied, welches Jes 41,10 zitierte: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. In mir wurde es heller und die Gewissheit in meinem Herzen wuchs: Gott ist der Gleiche. Auch hier. Auch jetzt. Auch, wenn alles anders ist – Gott ist da.

Im letzten Jahr hatte ich für mich eine wichtige Frage geistlich zu klären. Und dann gab es mehrere Monate, wo sich überhaupt gar nichts tat. Es ging nichts vorwärts. Keinen Millimeter. Ich betete und beschäftigte mich vielseitig mit der Thematik, aber ich kam überhaupt nicht weiter. Keine Tür, die sich öffnete. Keine Erkenntnis. Das war sehr ernüchternd und zermürbend. Ich musste neu lernen, die Kontrolle abzugeben, meine Grenzen anzuerkennen, Hingabe zu üben, Vertrauen auf Gottes Zeitpläne zu lernen sowie geduldig zu warten. Kennst du solche Phasen oder Themen?

Mich tröstet, dass ich mit solchen Erfahrungen nicht allein bin. Die Wolke von Zeugen berichtet schon in der Bibel immer wieder davon: Josef wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft, wo er fälschlicherweise im Gefängnis landet und dort zwei Jahre lang scheinbar vergessen liegt. Das Volk Israel war vor der Befreiung viele Jahrhunderte in Sklaverei. Mose selbst musste 40 Jahre lang das Schweigen Gottes ertragen. Elia, der allein übriggeblieben war, lief 40 Tage durch die Wüste, bis er Gott fand – und er fand ihn gerade in der Stimme verschwebenden Schweigens (1  ön 19,10-12, M. Buber). Der Prophet Jeremia beschreibt die Erfahrung des Schweigens Gottes: Du hast dich in dichte Wolken gehüllt, kein Gebet ist zu dir durchgedrungen (Klgl 3,44). Die Psalmen sind voll davon – z. B. Ps 13,2: Herr, wie lange wirst du mich noch vergessen, wie lange hältst du dich vor mir verborgen? Oder Ps 22,2 (auch Jesus am Kreuz!): Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Und nachdem Gott oft durch die Propheten zum Volk sprach, kamen nach Maleachi 400 lange Jahre des Schweigens Gottes.

Wer sich auf Gott einlässt, wird auch mit seinem Schweigen konfrontiert. Diese erlebten Zeiten der gefühlten Gottesferne sind reale Erfahrungen, aber sie bedeuten nicht die Abwesenheit Gottes, sondern wirklich nur sein Schweigen. Sie sind kein Versagen, sondern Teil des Glaubensweges. Gerade in der Dunkelheit, wo ich ihn nicht spüre, nicht sehe, nicht verstehe – bleibt er der Gegenwärtige. Es scheint Zeiten zu geben, in denen Gott absichtsvoll schweigt. Zeiten, in denen sein Interesse für uns zwar nicht abgenommen hat, in denen seine Liebe immer noch genauso groß ist wie früher – aber in denen er beschlossen hat, zu schweigen und wir seine Gegenwart nicht wahrnehmen können.

Wir können dabei drei Dinge für unser Leben und unseren Glauben lernen:
Joh 12,24: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Manchmal gibt es nichts zu sagen oder zu sehen; außer, man interessiert sich für das, was im Verborgenen passiert, für das, was im Untergrund rumort.
Als Jesus am Kreuz stirbt und ins Grab gelegt wird, ist er wie das Weizenkorn unter der Erde. Am Karsamstag gibt es nichts mehr zu sehen. Das Graben, Hacken und Schaufeln ist vorbei. Der Boden ist wieder eben. Die Arbeiter verlassen das Feld. Und jetzt? Jetzt müsste es doch eigentlich losgehen, das Wachsen und Gedeihen. Doch erst einmal passiert – nichts. Zumindest nicht auf der Oberfläche. Darunter passiert ganz viel. Was genau geschieht, lässt sich erahnen, wenn man selbst zur Ruhe kommt. Da werden Wurzeln ganz weit in die Tiefe gestreckt und die dunkle Erde durchdrungen. Er macht sich für den neuen Anfang bereit.

Eine lange Tradition sieht die Erfahrung des Schweigens Gottes nicht als den Feind des Glaubens, sondern geradezu als das Wesen eines vertieften Glaubens und größerer Gottesnähe. Martin Luther war z. B. der Ansicht, dass Gott schweigsam wird, um uns in eine tiefere Beziehung mit ihm hineinzuziehen. Es sind Zeiten, in denen der Egoismus unseres Glaubens einen heilsamen Bruch erfahren kann. Denn wie oft glauben wir letztlich aus egoistischen Gründen. Wir glauben, weil wir uns von Jesus Trost, Sinn, Heilung, Vergebung usw. erhoffen. Und immer wieder dürfen wir das tatsächlich auch erfahren. Gott tröstet, heilt, vergibt und tut vieles mehr. Unser Gott ist ein guter und wunderbarer Gott, der gerne hilft und es liebt, uns zu beschenken. Dabei wird jedoch auch die wachsende Gefahr des Glaubens-­Egoismus genährt: Wir lieben Gott und glauben an ihn, weil er funktioniert. Weil er uns hilft. Weil wir davon profitieren.

Bis Gott auf einmal schweigt – und der Egoismus unseres Glaubens ins Leere läuft. Der Profit ist dahin und wir stehen vor der Wahl: An Gott dranbleiben und versuchen, ihn trotzdem zu lieben, einfach um seiner selbst willen. Oder wenden wir uns ab von diesem scheinbar enttäuschenden Gott. Einsamkeit vor Gott heißt nicht automatisch getrennt sein. Vielleicht ist es sogar eine der ehrlichsten Formen der Nähe – wenn ich Gott nicht mehr für das halte, was er für mich tut, sondern einfach für das, was er ist.

Meister Eckhart meint: „Manche Menschen wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen. Sie wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten es alle jene Leute, die Gott um des äußeren Reichtums oder des inneren Trostes willen lieben. Die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“
Einsamkeit gegenüber Gott zu erleben, ist nicht angenehm. Es bleibt mir aber nichts anderes übrig, als diese Erfahrung wahrzunehmen. Nicht, weil ich gerne zweifle oder enttäuscht werde, sondern weil Gott Gott ist: Er ist kein Garant eines glücklichen und einfachen Lebens. Kein Kuschelgott, den ich in meine Hosentasche stecken kann, den ich im Griff habe, den ich komplett verstanden habe. Seine Gedanken sind höher als meine Gedanken (Jes 55,8f). Gott bleibt anders. Geheimnisvoll. Er bleibt auch immer ein unverständlicher, verborgener Gott (deus absconditus). Mächtig, ungezähmt und heilig. Jes 45,15: Du bist ein Gott, der sich verborgen hält.
Zum Schluss stelle ich sieben verschiedene Wege und Möglichkeiten vor, wie wir mit solchen Situationen umgehen können. Möge Gott jedem Weisheit und hilfreiche Weg­gefährten schenken!

Der Weg der Beichte: Ich kann mich fragen, ob ich da bin, wo er ist. Wo muss ich umkehren? Was trennt mich?

Der Weg der Stille: Bin ich zu laut, um ihn zu hören? Ist Gottes Schweigen ein Ruf, selbst ins Schweigen zu kommen? Wo habe ich persönliche Stille nötig, um hörfähig sowie empfangsbereit zu werden und zu bleiben? Manchmal muss ich lange in die Stille hineinhorchen, um zu hören, was Gott mir sagen möchte.

Dies sind die beiden klassischen Wege.
Sie bleiben wichtig. Ich möchte fünf weitere anfügen.

Der Weg des Redens und Tuns: Wenn Gott schweigt, will er, dass ich rede. Ich bin dran – ich habe genug gehört – es gilt zu gehorchen und zu handeln und zu reden.

Der Weg des ruhenden Vertrauens: Gegen die Alles-sofort-Kultur unserer Zeit – manches braucht Zeit! Ich kann es nicht abkürzen. Es ist noch nicht dran. Durch manches muss ich geduldig hindurch. Und dies im ruhenden Vertrauen: Solange Gott die Ruhe bewahrt, darf ich es auch. Wenn Gott schweigt, darf auch ich schweigen. Der schlafende und scheinbar nicht ansprechbare Jesus in der Geschichte von der Sturmstillung lehrt mich: Wenn er schweigt, muss ich nicht denken, dass er sich nicht für mich interessiert. Es gibt auch ein schönes, vertrautes Miteinander-Schweigen. Bleibe treu und geduldig bei dem, was dir anvertraut ist (2 Tim 3,14).

Der Weg der Erinnerung: Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat (Ps 103,2). Von unseren jüdischen Geschwistern können wir uns diese wertvolle Erinnerungs- und Feierkultur abschauen. Bleibe – gerade auch in schwierigen Zeiten – dankbar für das, was Gott dir und dem Gottesvolk geschenkt hat. So ist er ja auch weiterhin!

Der Weg der Gemeinschaft: Entzieh dich nicht – dauerhaft! – der Gemeinschaft mit anderen Christen. Es gibt immer welche, die gerade einen Karfreitagsglauben haben – im Leid sind sie Christus nah. Das Kreuz ist ihnen Trost. Und es gibt auch welche, die gerade einen Ostersonntagsglauben haben. Sie leben aus der Auferstehungskraft und schöpfen aus der Fülle des Sieges. Und dann gibt es auch die, welche gerade einen Karsamstagsglauben haben. Sie warten und schweigen und an der Oberfläche ist es wüst und leer.

Wir brauchen einander! Gegenseitig und als Ergänzung. Die Bibel kennt sehr gut einen stellvertretenden Glauben (Mk 2,1ff).

Der Weg der Verheißung: Bleibe offen fürs Hoffen! Manches dunkle Tal des Schweigens und manche Schlucht des Todes mutet er mir zu. Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand (Ps 73,24). Der verborgene Gott bleibt zugleich der rettende Gott. Ich muss ihn nicht fühlen, um von ihm gehalten zu werden. Teresa von Avila schrieb: „Auch wenn ich nichts spüre, weiß ich, dass du da bist.“ Ich muss ihn nicht verstehen, um ihm zu vertrauen. Vielleicht schweigt er, aber er verlässt mich nicht. Vielleicht fühlt es sich leer an, aber es ist nicht sinnlos. Mit den Emmausjüngern erlebe ich, dass der Auferstandene mir oft viel näher ist als ich spüre (Lk 24). Darum bleibe ich dran – ich suche, ringe, grabe, hoffe! Gemeinsam warten wir auf den neuen Morgen.

Ach übrigens: Ich warte noch immer auf eine Antwort auf meine geistliche Frage vom letzten Jahr und suche nach Autoaufklebern …