Sterben muss jeder für sich allein
- Der Sterbende braucht unsere Nähe und bleibt dennoch für uns unerreichbar
- Grund unserer Einsamkeit ist die Sehnsucht nach dem Himmel
- Vom Sterbenden das Leben lernen
Am 23. April dieses Jahres, auf einer Zugfahrt zu einer Familienfeier, erreichte mich die Nachricht, dass mein anderthalb Jahre älterer Bruder Klaus sehr schwer krank sei – „Lymphdrüsenkrebs im Endstadium“, so hieß es.
Ohne zu zögern buchte ich tags darauf einen Flug nach Port Macquarie in Australien, wo er zu der Zeit im Krankenhaus lag. Es drängte mich geradezu, während der noch verbleibenden Lebenszeit meines Bruders nah bei ihm zu sein und ihn auf seinem letzten Weg begleiten zu können. 1982 ist mein Bruder mit seiner ersten Frau nach Neuseeland ausgewandert. Etwa 15 Jahre später entdeckte er die Vispassana-Meditation, eine Form der Achtsamkeitsübung, die ihren Ursprung im Buddhismus hat. Vispassana wurde zu einem festen Bestandteil seines Lebens und half ihm, das Rauchen aufzugeben, seinen Jähzorn zu zügeln und innerlich insgesamt ruhiger zu werden; vermutlich jetzt auch, mit seiner Krankheit zu leben. Ich hatte nicht die Absicht, ihn wieder zum Christentum zu bekehren, sondern wollte ihm einfach in der Gesinnung Christi dienen und vertraute darauf, dass ihm Christus durch mein Handeln begegnen würde.
Am Flughafen wurde ich von seiner Frau abgeholt und wir fuhren sofort ins Krankenhaus. Als wir dort ankamen, lag er - erschreckend abgemagert - im Krankenbett. Sein Gesicht strahlte mir entgegen und mit heiserer Stimme rief er aus: „Rudi, my dear brother, how nice of you to come, how are you?“ (Rudi, lieber Bruder, wie schön, dass du kommst! Wie geht es dir?) Während er aus einem überschwänglichen Mitteilungsbedürfnis und auf Englisch pausenlos auf mich einredete, erinnerte ich ihn daran, dass er auch Deutsch mit mir sprechen könne, worauf er sich entschuldigte und sagte: „Ach weißt du, ich habe die längste Zeit meines Lebens in Neuseeland gelebt; für mich ist Englisch zu meiner ersten Sprache geworden.“ In seinem kaum zu bremsenden Redefluss wechselte er zwischen beiden Sprachen ständig hin und her und erst nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich ihn in den kommenden 21 Tagen täglich besuchen kommen würde und wir noch viel Zeit zum Reden miteinander haben würden, beruhigte er sich langsam und schlief kurz darauf vor Erschöpfung ein.
Klaus hatte gerade seine erste Chemotherapie hinter sich und hoffte zu dem Zeitpunkt noch auf Heilung. Zwei Tage später zeigten sich äußerst unangenehme Nachwirkungen: Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen beim Essen und Trinken, etc., so dass er auf die Intensivstation verlegt wurde. Am dritten Tag meines Besuches überraschte er mich schon bei meiner Ankunft mit dem lapidaren Satz: „Rudi, ich habe entschieden zu sterben! Ich will keine Behandlung mehr, es bringt nichts mehr.“ Ich schaute ihn fragend an, doch ich spürte, dass es ihm ernst damit war. „Erzähl mir, wie unsere Oma gestorben ist!“, wollte er jetzt wissen. Ich erzählte ihm in aller Ausführlichkeit von den letzten, sehr bewegenden Stunden vor ihrem Heimgang. „Danke, das ist sehr schön, was du mir da erzählst, aber ich denke, sterben muss letztlich jeder für sich allein.“
Ich hörte ihm zu und dachte nach. Viel öfter wird betont, dass niemand ohne menschliche Nähe sterben solle. Am Montag bei der Arztvisite, bei der ich anwesend sein durfte, teilte Klaus dem Arzt seine Entscheidung unumwunden mit: „Ich bin bereit zu sterben, bitte beenden Sie die Behandlung.“ Der Arzt hörte ihm aufmerksam zu und klärte ihn über die Folgen seiner Entscheidung auf. Mein Bruder blieb dabei.
Nachdem der Arzt anhand verschiedener Fragen seine Zurechnungsfähigkeit geprüft hatte, wurde er bereits 15 Minuten später von allen medizinischen Apparaten getrennt. Nach einem weiteren Tag wurde er dann in die 40 km von Port Macquarie entfernte „Palliative Care Unit“ in Wauchope verlegt.
Der Sterbende braucht unsere Nähe und bleibt dennoch für uns unerreichbar
Wir haben in der ersten Woche viel miteinander gesprochen - Jugenderinnerungen ausgetauscht und über das Leben philosophiert. Jede seiner Äußerungen war mir kostbar und ich hörte ihm aufmerksam zu. Doch obwohl wir viel miteinander sprachen, wusste ich nie wirklich, was in seinem Inneren vorging. Fortwährend machte ich mir Gedanken, wie es ihm wirklich gehen mochte. Was bedeutete der Tod für ihn? Von außen betrachtet schien er keine Angst zu haben, doch offen blieb für mich: Worauf geht er zu, wenn er nun Abschied vom Leben nimmt? Hat er etwas im Sinn, was ihn nachher erwartet? Aus den wenigen Worten, die er geäußert hatte, versuchte ich mir etwas zusammenzureimen, konnte aber nicht wirklich Schlüsse daraus ziehen. Alles spekulieren würde mich als jenen Blinden ausweisen, der von der Farbe reden will. Trotz physischer Nähe fühlte ich mich bis zum Ende oft weit weg von ihm. Er brauchte meine Nähe und dennoch blieb er unerreichbar für mich.
Man hat mich des Öfteren gefragt: „Warst du dabei, als dein Bruder starb?“ Hinter der Frage höre ich auch die Frage: „Wie ist er denn gestorben?“ Ja, körperlich war ich ihm nahe wie noch nie zuvor - bis zu seinem letzten Atemzug. Doch was in diesen letzten Stunden in seinem Inneren vorging, darüber vermag ich kaum etwas zuverlässig zu sagen. Merkte er noch, dass ich in seiner Nähe war? Hörte er noch, wenn ich betete und was ich zu ihm sagte? Spürte er meine Berührungen? Was hatte er vor Augen, wenn sie in kurzen Augenblicken in die Ferne gerichtet waren? Alle diese Fragen bleiben unbeantwortet. Zuletzt hat er die Welt verlassen in der Traumwolke des Morphiums. Was die Dumpfheit durchdrang, war manchmal noch ein Zeichen, das auf den Wunsch nach einer kleinen Hilfeleistung hindeutete, die ich bestmöglich zu befriedigen versuchte.
Stets fühlte ich mich immer da meinem Bruder am nächsten, wo ich mit oder für ihn betete. Wenn ich bei ihm war, versuchte ich mich immer wieder auf Gottes Gegenwart zu besinnen. Ich erinnerte mich an das Wort des Jesuiten Peter Lippert: „Jesus ist derjenige, der uns in gebührender Weise miteinander verbindet und voneinander trennt.“ So blieb das Gebet wie eine begehbare Brücke zum Herzen meines Bruders bis zuletzt erhalten.
Grund unserer Einsamkeit ist die Sehnsucht nach dem Himmel
Klaus ist die vierte Person, die ich in ihren letzten Tagen begleitet habe und ich komme zu der Ansicht, dass wir dem vom Leben Abschiednehmenden nichts anderes schenken können als Wahrheit und Liebe. Was davon ankommt und was unsere Haltung und unser Verhalten bewirkt, wissen wir nicht. Es bleibt uns verborgen – ein Geheimnis, das mit Einsamkeit einhergeht. Vielleicht macht Gott uns diese Einsamkeit zum Geschenk, um uns daran zu erinnern, dass unsere wahre Heimat bei Gott ist. Der Sterbende befindet sich im Übergang in eine Welt, zu der uns der Zugang noch verwehrt ist. Es scheint unmöglich, dass der Sterbende sein Erleben mitteilt. Unwillkürlich denke ich an das Wort, das Jesus beim Abschied von seinen Jüngern hinterließ: Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen. (Joh 13,33). So ist es wohl wahr, dass ein Mensch am Ende seines Weges und ebenso derjenige, der ihn begleitet, ganz auf sich verwiesen ist.
Vom Sterbenden das Leben lernen
Die große Einsamkeit des Menschen im Abschied ist eine universelle Erfahrung, der kein Mensch entkommen kann. Das Leben stellt uns viele Fragen und nötigt uns zu Entscheidungen. Der Tod tut es nicht minder. Was, um Himmels willen, mach ich mit meinem Leben? Hängt nicht auch mein Leben nur an einem seidenen Faden und kann jeden Moment zu Ende sein? Wie beeinflusst diese Tatsache mein Leben? Darüber zu Lebzeiten immer wieder nachzudenken, erscheint mir ein gesunder Realismus zu sein. Vermutlich begreifen wir nirgendwo mehr, was es heißt zu leben, als im Angesicht eines toten Angehörigen.
Von dem Bestattungsinstitut „Innergardens - Tender Funerals“ wurden Klaus‘ Ehefrau und ich dazu eingeladen, den Toten selbst zu waschen, anzuziehen und in den Sarg zu legen. Auf diese Weise meinen Bruder der Barmherzigkeit Gottes zu überlassen, zählt für mich zu den tiefsten Erfahrungen meines Lebens. Noch nie zuvor habe ich so tief erfasst, worauf es im Leben wirklich ankommt. Zuhause fiel mir wieder das Sterbebild meiner Mutter von 1990 in die Hand. Darauf steht ein Wort von Dietrich Bonhoeffer, das uns einlädt nachzudenken, was im Leben wirklich trägt: „Es gibt einen untrüglichen Maßstab für das Große und Geringe, für das Gültige und Belanglose, für das Echte und Gefälschte, für das Wort, das Gewicht hat und für das leichte Geschwätz - das ist der Tod.“ Spätestens im Abschiednehmen muss jeder Mensch - einsam und allein - sein Leben auf diesen Maßstab hin resümieren. Ratsam wäre es, das uns noch verbleibende Leben schon jetzt daraufhin zu prüfen und dementsprechend zu gestalten.