Riesenrad vor blauem Himmel

Wir treffen uns am Riesenrad

„Wenn wir uns verlieren sollten, treffen wir uns am Riesenrad“, war die eindringliche Abmachung, wenn unsere Eltern mit uns Kindern tatsächlich mal auf dem Cannstatter Wasen unterwegs waren. Ich kann das Gefühl sofort abrufen: verloren zu gehen, im Menschengewühl den Blickkontakt zu verlieren, nicht zu wissen, wo meine Herde ist, allein zu sein. Erst kürzlich waren wir als Familie seit langem mal wieder auf einem Rummel. Zugegeben ein eher übersichtliches regionales Rümmelchen. Unsere Kinder sind inzwischen hochgewachsene junge Erwachsene, ausgestattet mit gutem Orientierungssinn und Handys. Trotzdem meldete sich aus einer tiefen Ecke meiner Seele ein „wenn wir uns verlieren sollten, treffen wir uns am Riesenrad“ und gab erst Ruhe, als alle diese Vereinbarung mit einem wohlmeinenden Augenverdrehen abgesegnet hatten.


Alleinsein, wenn man jemanden braucht, ist schlimm. (Und ja, Alleinsein, wenn frei und selbstgewählt, ist auch ein hohes Gut, geradezu Luxus. Als zweitältestes von neun Kindern weiß ich das. Und auch als Kommunitätsmitglied und Menschenmensch, aber darum soll es jetzt nicht gehen.)

Mit den Jahren hat sich mein „Allein-und-einsam-Gefühlsspektrum“ (wie wohl bei den meisten Menschen) erweitert. Mit jedem Umzug und Neuanfang kam eine weitere Nuance dazu. Das Erleben, innerlich allein zu sein. Mich nicht verstanden fühlen. Nicht gekannt. Allein mit einer Not, die schwer zu teilen ist. Sehr lange wusste ich nicht, wie viele andere das genauso erleben.

Die Jahre im südlichen Argentinien waren eine weitere gute Zeit, um mit neuen Alleinsein-Schattierungen bekannter zu werden. Unsere Provinz hatte 1,5 Einwohner pro Quadratkilometer (wie auch immer man sich eineinhalb Einwohner vorstellen soll – jedenfalls sind es wenige). Allein durch Fremd-Sein. Allein durch Anders-Sein. Und allein durch Am-anderen-Ende-der-Welt-Sein. Wie viele unserer Nachbarn hier das gerade jetzt vielleicht genauso erleben?

Aber es gibt noch eine ganz andere Dimension von Einsamkeit, die mir in der Begleitung von Menschen begegnet und die ich in dieser Tiefe, Gott sei Dank, nicht aus eigenem Erleben kenne.

Das ist, wenn Einsamkeit ein allgegenwärtiges Lebensgefühl, ja ein Lebenszustand ist. Oft ausgelöst durch eine emotionale Unterversorgung in der Kindheit. Ein Hauptsymptom für frühes Bindungstrauma. Eine tiefe Mutterseelenallein-Wunde. Menschen, die damit kämpfen, fühlen sich oft nicht zugehörig und manchmal wie abgeschnitten von anderen. Nicht verstanden und tieftraurig. Und nicht selten ist dieses tiefe Einsamkeitsgefühl eingewickelt in ein Schamgefühl, das flüstert: „Du warst zu wertlos, um wirklich beachtet, gesehen und versorgt zu werden.“ Bindungsschmerz, sagt man, gehört zu den schlimmsten Schmerzen, die es gibt.1

Einsamkeit schreit nach einer Antwort. Selten kommt sie sofort. Und doch: Wenn Menschen beginnen, Hilfe zu suchen, in seelsorgerliche oder therapeutische Begleitung kommen, oder sich einem Freund anvertrauen, ist das schon ein erster kleiner, aber entscheidender Schritt heraus aus dem Alleinsein mit der Einsamkeit.

Und Gott? Wo ist er in alldem?

Manchmal frage ich Ratsuchende (oder mich selbst): Was denkst du, was wäre Jesus gerade wichtig, was du wissen solltest? Eine Antwort, die ich öfter höre, heißt ungefähr so: „Ich glaube, er will, dass ich weiß, wie nah er ist.“

Und ja, das glaube ich auch. Er wünscht sich, dass du und ich zutiefst erfassen, wie nah er ist. Es ist fast so, als ruft er das geradezu durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der Menschheitsgeschichte seinen Kindern zu. Es dringt durch alle Ritzen seines Wortes an uns. Als wäre es mit Graffiti auf jede Mauer gesprüht, an der wir vorbeikommen. Von dem Moment an, als er seinen Menschen von Hand geformt und modelliert hat. Als er sich Mose vorgestellt hat als der Da-Seiende. „Ich bin da für dich. Das ist mein Name.“ Das muss man sich mal vorstellen: Sein NAME ist das. So IST er. Das hat er nicht nur als Notfalltropfen in der Reiseapotheke. Sein Wesen ist Da-Sein. Von allen Seiten da. Vielleicht mag ich deshalb die Dreifaltigkeitsikone so. Sie hilft mir, mir vorzustellen, dass Gott mich in seine Mitte nimmt, umgibt, ummantelt, umfriedet.

Er ist ein Gott des Bundes. Ein Gott, der durch die Jahrhunderte mit seinem Volk die Verbindung immer gesucht, aufgebaut und gehalten hat. Und der sich schließlich selbst auf den Weg gemacht hat zu uns, als Immanuel, als Gott mit uns. Sichtbar, hörbar, fühlbar nah. Um dann, am Ende seines Lebens auf dieser Erde, allen Mutterseelenallein-Schmerz dieser Welt auf sich zu nehmen. Ihn zu fühlen, zu tragen und daran zu sterben.

Und bevor er als auferstandener Herr wieder zu seinem Vater zurück ging, hat er sich verabschiedet von seinen Leuten und ihnen letzte wichtige Worte und das Versprechen mitgegeben, einen Beistand und Tröster zu schicken. Wieder ging es ihm darum, dass wir nicht allein sind! „Ich will, dass ihr das wisst: Bis zum Ende bin ich da!“

Es scheint so, als hätte Gott die Sache mit dem Alleinsein zur Chefsache gemacht. Offenbar weiß er, wie schlimm das ist. Wie sehr wir angewiesen sind auf Verbundenheit. Wie störanfällig sie ist. Und dass es ein „Brauchen“ in uns gibt, das nur bei Ihm, dem Da-Seienden in Person, zur Ruhe kommt.
Deshalb: Lasst uns die vielen Zeichen seines Daseins suchen und ent­decken, schmecken, sehen, fühlen und erleben und uns gegenseitig dazu helfen!
Ach, und wenn wir uns im Gewühle des Lebens doch mal verlieren sollten: Wir treffen uns am Riesenrad! Und ich bin sicher: ER wartet da auch.

Hanna Epting (OJC) begleitet das Jahresteam in der OJC und arbeitet im Bereich Seminararbeit und Seelsorge.