Endlich jemand!
Vor vielen Jahren besuchte ich eine alte Dame, deren Ehemann ich vor einiger Zeit beerdigt hatte. Wir unterhielten uns in der Küche, in der wir in den vergangenen Jahren häufig zu dritt gesessen hatten. Plötzlich hielt sie inne: „Eben merke ich, dass die Worte, die wir wechseln, die ersten laut gesprochenen Worte hier im Haus in dieser Woche sind.“ Ich hatte eine Witwe angetroffen, um die es still geworden war und die in diesem Moment ihre Einsamkeit wahrgenommen hatte.
Einsamkeit gehört zu den Urerfahrungen des Menscheins. Nicht immer spüren wir das sofort. Ich denke an Adam im Paradies. Ihm war nicht aufgefallen, dass er was vermisste. Im Paradies war ja viel los. Er hielt sich für vollständig und rundum glücklich. Nur Gott hat was bemerkt. So lesen wir in Gen 2,18: Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott selbst hat die Spannung zwischen dem „siehe, es war sehr gut“ seiner Schöpfung und dem „es ist nicht gut“ unseres Menschseins ans Licht gebracht.
Der unvollständige Mensch
Ja – der Mensch war wie alle Schöpfung „sehr gut“. Auch Adam war sehr gut, aber eben noch nicht vollständig. Das Wort „allein sein“ hat im Hebräischen den Anklang zu „ein Teil sein, ein Stück von etwas sein, einzeln sein“. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, übersetzt mit „mónon“. Und die lateinische Vulgata mit „solum“. Will der Mensch sein Mensch-Sein vollumfänglich entfalten, kann er weder Mono-Wesen noch Solo-Person sein. Darum: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Als Ebenbilder Gottes sind wir Beziehungswesen. Hellmuth Frey nennt diese grundsätzliche Lebenslage „er wird der Ergänzung bedürftig“1. Ja – der Mensch war sehr gut, aber eben auch ein Solist. Beides beieinander zu halten – sehr gut und doch nicht vollständig – hilft uns, Einsamkeit nicht einfach als Defizit wahrzunehmen. Auch in den einsamsten Momenten, für die man sich wahrlich nicht schämen muss, bleibt der Mensch sehr gut. Und doch ist diese Spannung kein Schicksal, das es einfach hinzunehmen gilt.
Der wahrgenommene Mensch
Gott hört nicht mit einer nüchternen Analyse es ist nicht gut auf, sondern er geht weiter: Ich werde ihm… Gott sieht die Lösung und will sie auch herbeiführen. So bemerkt der Alttestamentler Gerhard von Rad: „Einsamkeit ‚ist nicht gut‘; der Mensch ist auf Geselligkeit hin angelegt; Gottes Freundlichkeit sieht, dass es dem Menschen wohltun würde, wenn ihm ein mithelfendes Wesen beigegeben wäre (…).“2
Gott überlässt seine Schöpfung nie sich selbst. Auch den Menschen nicht. Und das gilt nicht nur für die Momente des „sehr gut“, sondern auch für die des „nicht gut“ in unserem Leben. Der Mensch ist ein von Gott wahrgenommener Mensch. Inmitten seiner je vorfindlichen Wirklichkeit. Von dem Gott der Bibel wird immer wieder festgestellt, dass er ein Gott ist, der uns gerade in den misslichen Lebenslagen sieht und wahrnimmt. Und einer, der genau dahinein sein Ich-werde-Ihm hineinspricht. Der Schöpfer und Erhalter unseres Lebens belässt es nicht bei einer trefflichen Analyse. Er bleibt nicht bei einer etwas mitleidigen Feststellung stehen. Er macht sich mit uns auf den Weg der Veränderung.
Der ganze Mensch
Nach dem, was wir Menschen sind – unvollständig und wahrgenommen – kommt nun das, was aus uns werden soll. Also: Darauf sprach JHWH Gott: Nicht gut ist das Sein des Menschen für sich allein, ich werde für ihn Hilfe machen als sein Gegenüber.
Gott schafft der Einsamkeit des Menschen Abhilfe, indem er eine Hilfe schafft. Es geht bei dem hebr. Wort um den Beistand, der einem gewährt wird. Die Wortwurzel bedeutet so viel wie „stark sein“. Also: unterstützen … zusammenhelfen … fördern … rettend beistehen … zu Hilfe kommen … Verbündeter sein. Es ist über alles menschliche Tun hinaus die wichtigste Vokabel für Gottes heilvolles Handeln. Sie beschreibt Gott in seiner Art, für den Menschen da zu sein, um ihn zu retten. So u.a. in Jes 41,10: … ich bin bei dir … ich stärke dich, ich helfe dir, ich schütze dich. „Bestimmend für die Bedeutung […] ist der Aspekt des gemeinsamen Handelns oder das Zusammenwirken […], wo die Kraft des einen nicht hinreicht […].“3
In älteren Bibelübersetzungen ist „Hilfe“ personal übersetzt: Ich will ihm eine Gehilfin machen. Das hat zu mancherlei Missverständnissen geführt. Denn „Gehilfin“ klingt nach Assistentin. Jemand, der dem Eigentlichen unterstützend zuarbeitet, jemand Untergeordnetes. Das aber ist hier gerade nicht gemeint. Claus Westermann weist darauf hin: „Hier ist absichtlich der neutralere Begriff gebraucht.“4 Und G. von Rad präzisiert: „Man darf hier [Hilfe] nicht schon im Hinblick auf die spätere Erschaffung des Weibes personifiziert als ‚Gehilfin‘ übersetzen. Es ist zunächst nur von einem Beistand geredet, von dem, was dem Menschen Inbegriff innerer und äußerer Förderung werden soll.“5 Gott schenkt dem Menschen jemand, der sich stark macht für ihn – der ihm Beistand und Hilfe bietet. Hilfe – und nicht Gehilfin – wird deutlich an dem zweiten Wort.
Das hebräische Wort meint das Gegenüber. Die Bibelübersetzungen konnotieren das mit „die um ihn sei … ihm entspricht … ihm gemäß … ihm ebenbürtig ist“. Dieses Gegenüber ist kein kleines verkapptes Männlein – kein Abziehbild und keine Assistentin. Es ist die Frau – gleichermaßen unabhängig, ebenso eigenständig wie verbunden. „Männin … Mann“, wie Luther Gen 2,23 übersetzt hat – ist im Hebräischen ein Wortspiel, das im Deutschen nicht recht wiederzugeben ist. Eva ist eben nicht Geschöpf Adams, sondern ebenso wie er Geschöpf Gottes – gleich ursprünglich, gleich originell, gleich Ebenbild Gottes. Hier zeigt sich das Wunder der ersten menschlichen Gemeinschaft. Die Rippe ist ein Ausdruck dafür, dass einer des anderen Teil ist. In dem folgenden ein Fleisch sein „liegt die Verheißung und das Gebot der Ergänzung zu einem Ganzen, dessen unvollkommener, unvollendeter Teil jedes Einzelne nur ist. […] Solch ein Ganzes ist aber lebendig und aus ihm wächst Leben.“6 Und: „In dem (ihm entsprechend) ist der Begriff des Gleichgearteten wie der der Ergänzung enthalten.“7
Der biblische Bericht bringt zum Ausdruck, dass es um weit mehr geht als um eine funktionale Lösung der Adam-Einsamkeit.
Der eine braucht die andere als Hilfe und Gegenüber. Da es um das Sein des Menschen geht, braucht es nicht nur eine Gehilfin, sondern tatsächlich eine Entsprechung. Hilfe (Tat) und Gegenüber (Person) gehören zusammen. Die Andere bzw. der Andere ist mir nicht einfach Gehilfin oder Gehilfe. Wer er oder sie für mich ist, drückt allein das Wort Gegenüber aus. Aber was ein Gegenüber ausmacht, findet sich im Ausdruck Hilfe. Beide Worte ergänzen sich wie die beiden Menschen sich ergänzen: „Erst Mann und Frau miteinander stellen einen ganzen und brauchbaren Menschen dar.“8 Und dieser ganze Mensch ist die eigentliche Lösung gegen Einsamkeit. Ganz eben nur in Beziehung.
Der lebendige Mensch
Aber, so könnte man jetzt einwenden, geht es hier nicht um die Begründung der Ehe? Was hat das mit meiner anfangs geschilderten Witwe zu tun? Oder mit ledigen Menschen? Doch es gilt festzuhalten: „Das Leben bietet eine solche Fülle von Möglichkeiten zu lieben, zu dienen, mit anderen Menschen zu leiden und für sie da zu sein, dass auch einem Menschen, der ohne Lebensgefährten seinen Weg geht, gleicherweise die Möglichkeit geschenkt ist, sich selbst in der Hingabe an andere zu finden und zu erfüllen. Die Ehe […] bildet für die Liebeserfüllung unseres Lebens nur ein Art Modell-Bild.“9
Wir Menschen sind zur Verbundenheit geschaffen. Wer sie lebt, kann auch Einsamkeit aushalten. Das Gegenstück ist übrigens nicht einfach Gemeinschaft. Auch unter vielen Menschen kann man sehr einsam sein. Es geht um Vertrautheit und ein geteiltes Leben. Daraus erwächst Lebensfreude. G. von Rad bemerkt: „[Adam] erkennt augenblicklich in höchster Freude das neue Geschöpf als das ganz zu ihm Gehörige.“10 Die ersten Worte, die ein Mensch überhaupt spricht, lauten: Die ist nun [wörtlich: endlich!] Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Erst durch das Wahrnehmen des Gegenübers entdeckt Adam auch seine Sehnsucht – so wie bei meinem Besuch die Frau die Stille erst durch unser Gespräch entdeckt hat. In der Frau erkennt der Mann – und fortan immer auch umgekehrt! – „die Antwort […] auf die Frage seines Herzens, die Ergänzung seines Wesens und letzte Verwandtschaft. So lebensvoll kommt das in dem überraschten, halb staunenden, erfüllungshellen ‚endlich!‘ zum Ausdruck“11.
Ich könnte mich fragen: Achte ich den Anderen als mein Gegenüber? Oder nur einseitig als Diener meiner Sehnsucht? Und wer könnte mir ein helfendes Gegenüber sein? Schließlich, wem könnte ich ein helfendes Gegenüber sein? Nicht nur im funktionalen Sinn, sondern vor allem als Hilfe zum voll umfänglichen Menschsein. Der Vers in Gen 2,18 beginnt mit einem „und“ bzw. „darauf“. Er schließt direkt an die Forderung Gottes an, nicht vom Lebensbaum zu essen. Für die Bewältigung unserer Lebensaufgaben und noch mehr unserer Lebensfragen brauchen wir ein Gegenüber als Hilfe und Beistand. Denn: „Wer sich selbst sucht, ist immer der Geprellte.“12
Hellmuth Frey; Das Buch der Anfänge; Die Botschaft des Alten Testaments, Band 1; S. 39 ↑
Gerhard von Rad; Das erste Buch Mose Genesis; ATD 2/4; S. 57 ↑
Ernst Jenni, Claus Westermann; Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Band II; Sp. 257 ↑
Claus Westermann; Genesis; Biblischer Kommentar Altes Testament I/1; S. 309 ↑
von Rad a.a.O. S. 57 ↑
Frey a.a.O. S. 40 ↑
von Rad a.a.O. S. 57 ↑
Hans Walter Wolff; Anthropologie des Alten Testaments; S. 145 ↑
Helmut Thielicke; Wie die Welt begann; S. 95 ↑
von Rad a.a.O. S. 59 ↑
Frey a.a.O. S. 39 ↑
Thielicke a.a.O. S. 94 ↑