Ein Ort wider die Einsamkeit
Ein großer Teil der Menschen im Hochhausviertel von Gotha-West lebt alleine in kleinen Wohnungen. Obwohl sie Tür an Tür wohnen, ist die soziale Isolation groß, besonders deren Leben chronische (psychische) Krankheiten oder Süchte prägen, deren familiärer Zusammenhalt sehr gelitten hat oder es gar keine Familie mehr gibt. Oft scheinen alle diese Faktoren sowohl Ursache als auch Folge für ein Erleben von Einsamkeit zu sein.
Mittendrin im Stadtviertel gestalten wir die senfkorn.STADTteilMISSION. Im Vordergrund stehen nicht Veranstaltungen, sondern Zeit für Begegnung. Es geht um Leben teilen, Zuwendung, Hinhören, Mitgestalten. Gemeinsam essen, gemeinsam feiern, persönliche Gespräche. Es ist ein offener Raum für sehr unterschiedliche Menschen. Ich habe mit einigen über ihr Einsamkeitsempfinden gesprochen. Ihre Äußerungen geben sehr authentische persönliche Einblicke und ermöglichen Rückschlüsse darauf, wie (christliche) Gemeinschaft Wege aus der Einsamkeit öffnen kann.
Präzise und tiefgründig beschreiben meine Gesprächspartnerinnen und -partner den Strudel, den Einsamkeit auslösen kann. Es klingt nach einer Entwicklung, in der die Perspektive immer enger und selbstbezogener wird und gleichzeitig die innere Lähmung Handlungsoptionen verstellt.
Ich habe gefragt: Was ist das eigentlich, Einsamkeit? Kennst du das und wie fühlt sich das an?
Angela: Bei mir im Haus sind einige Leute sehr, sehr einsam. Das kann einem sehr zusetzen. Da hockst du auf deinem Balkon und guckst in die Ferne und grübelst vor dich hin. Es ist schrecklich, wenn man immer nur schlechte Gedanken hat, man gerät in einen Teufelskreis und kommt nicht mehr raus. Man zieht sich immer mehr in seinen Kokon zurück und befasst sich nur noch mit sich selbst.
Linda: Einsam bin ich meistens, wenn ich alleine bin. Einsamkeit verfolgt einen. Es tut irgendwie weh, im Kopf, man denkt drüber nach. Warum ist man so alleine? Was hat man sich verbaut?
Sabine: Ich kenne es. Manchmal habe ich Angst, in meine leere Wohnung zu kommen. Da ist Langeweile und Ruhe, das ist nichts für mich.
Heidrun: Meine Kinder wohnen nebenan. Sie haben eine Wohnung, ich habe eine Wohnung. Ich kann jederzeit die Türen zumachen. Aber ich weiß, es ist jemand nebenan. Das tut mir sehr gut. Manchmal sage ich mir schon, dass ich es eigentlich nie geschafft habe… Und die Sehnsucht bleibt trotzdem, auch nach vielen Jahren alleine.
Marita: Ich war das gewohnt, immer mit meinem Mann zusammen zu sein. Meine Tochter will ja nichts von mir wissen. Einsamkeit fühlt sich sehr schlimm an, weil ich dann keinen habe, mit dem ich sprechen kann. Wenn ich das nicht habe, bin ich sehr traurig.
Immer wieder tauchten in den Gesprächen neben sozialen Bedürfnissen auch ganz lebenspraktische Fragen auf: Wer trägt mit mir den schweren Einkauf in den vierten Stock? Wer hilft mir, wenn ich ein Problem in meiner Wohnung habe? Wer bringt mich zum Arzt? Oder wer steht mir bei, wenn meine Katze krank ist? Ohnmachtsgefühle, niemanden haben, an den man sich wenden kann, werden nah mit Einsamkeit assoziiert. Wir beobachten, wie die wachsenden Beziehungen der Leute untereinander dazu führen, dass es zu diesen ersehnten Hilfestellungen kommt. Gemeinsame Wohnungsrenovierungen, Hilfe im Pachtgarten, Besorgungen, Transporte. Auch das Erinnern und Feiern von Geburtstagen hat große Bedeutung. Manche beschreiben in diesem Zusammenhang die Gruppe als „ihre neue Familie“.
Auf meine Frage nach Strategien zur Bewältigung von Einsamkeit berichteten einige meiner Gesprächspartner erstaunlich ehrlich von Kompensationsverhalten oder im Brustton der Überzeugung von vermeintlich einfachen Lösungen. „Man muss nur wollen und was tun, dann ist man nicht einsam.“ Könnte es sein, frage ich mich, dass die Gefühle der Einsamkeit – wie auch andere unangenehme Gefühle – so schwer auszuhalten sind, dass die meisten eben doch die Option wählen: „Hauptsache, schnell nichts mehr fühlen!“
Sabine: Wenn ich in meine leere Wohnung komme, mache ich als erstes den Fernseher an. Damit ich irgendwas höre. Wenn ich meine Arbeit nicht hätte… die gibt mir Struktur. Ich versuche, mir was einfallen zu lassen, was ich tun könnte oder müsste. Man ist ja auch unter Menschen manchmal einsam.
Linda: Wenn die dunklen Erinnerungen kommen, nehme ich eine Schlaftablette. Ich schlafe lieber den ganzen Tag und hoffe, dass es am nächsten Tag wieder weg ist. Du bist ja gefangen in dir. Da sind Gitter, du kannst nicht raus. Da kannst du ruckeln, wie du willst. Manchmal geht das einen zweiten oder dritten Tag. Dann kommen die Selbstmordgedanken verstärkt. Wenn ich drüber reden kann, hilft mir das. Gespräche reichen schon, die mich ablenken. Ich rede nicht darüber, wie es mir gerade geht. Ich wünsche mir nur, dass jemand da ist.
Volker: Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, bin ich einfach raus aus der Wohnung. Ich musste irgendwas machen. Früher habe ich immer getrunken und bin trotzdem früh um vier Uhr wach geworden. Der Schnaps hat ja nicht geholfen. Mir hilft, überall hingehen, die Angebote wahrnehmen, was machen und viel laufen.
Jutta: Ich geh unter Leute. Wenn ich Ruhe haben will, kann ich auch gerne für mich sein. Da fühle ich mich nicht einsam, das habe ich dann ja gewählt. Raus gehen und sich Gesellschaft suchen. Manche sagen: „Heute hat den ganzen Tag noch niemand mit mir gesprochen.“ Ist ja logisch. Ich muss unter Leute gehen.
Interessanterweise wurden in den Gesprächen die geistlichen Aspekte in unserer senfkorn.-Initiative entweder zunächst gar nicht oder nur sehr indirekt erwähnt. Vorrangig war immer der Gemeinschaftsaspekt.
Angela: Dass ich da wieder rausgekommen bin! Ich habe am Tisch gesessen und habe geweint. Das kanns doch nicht sein, dass du immer so alleine bist. Dass ich die senfkorn.-Gruppe gefunden habe, das war eine Rettung. Da konnte ich auch mal wieder lachen und da habe ich gemerkt, ich bin wieder zuversichtlich. Es hat mir Kraft gegeben, einfach angenommen zu werden, so wie ich bin.
Sabine: Im senfkorn. fühle ich mich ganz wohl, da kann ich mal ein bisschen denken. Das kann ich bei der Arbeit nicht. Und es geht um Gott und da sind andere Leute, die die gleichen Interessen haben. Aber ich bin manchmal so gereizt, mich nervt dann alles. Es heißt ja immer, Jesus ist in einem und bleibt in einem, mit Liebe oder was weiß ich, auch die sogenannte Nächstenliebe. Ich lieb die oftmals nicht (lacht).
Marita: Ja, ich bin froh, dass es das senfkorn. gibt, dass man sich beim Frühstück mit Leuten unterhalten kann. Ich arbeite ja auch mit. Das brauche ich auch. Das ist beides gut gegen die Einsamkeit. Ich muss mich mit jemanden unterhalten können und ich muss auch mit jemanden arbeiten können.
Wir sprechen im senfkorn. viel darüber, dass wir Gott vertrauen können. Ich frage, was ihnen das bedeutet, wenn wir Sachen sagen wie: Gott ist immer da. Ich frage, ob sie das spüren können.
Marita: Ich bin ja getauft und konfirmiert. Durch die Christenlehre, die ich hatte, ist das gefördert worden. Das ist sehr schön und ein Ansporn gewesen. Ich habe mir ja eine Bibel geholt. Da guck ich auch mal rein. Sowas brauche ich. Auch gegen die Einsamkeit.
Jutta: Ich denke, dass Gott nicht möchte, dass wir einsam sind. Nur nicht jeder nimmts für sich an. Man müsste sie kennen, die Einsamen. Früher hat der Pfarrer Leute zu Hause besucht. Gerade vielleicht Leute, die noch nie was von Gott gehört haben. Gibt es das heute noch?
Linda: Ich wurde hier reingeführt, von Gott selbst. Er war immer bei mir. Auch als ich es so schwer hatte. Da war eine Stimme, die hat gesagt: Bleib stark, du schaffst das. Ich wusste aber nie, wer das ist. Irgendwann habe ich dann an Gott geglaubt, da war ich zwölf oder dreizehn. Ich war wahrscheinlich die Einzige weit und breit, die wusste: Das ist Gott. 20 Jahre später bin ich hier reingekommen und tatsächlich, ich bin nicht die Einzige, die ihn sieht und hört, die mit ihm redet. Er hat uns zusammengeführt und dann war ich auch nicht mehr einsam.
Heidrun: Ich komme ja meistens am Dienstag und am Freitag. Da fühl ich mich sehr wohl hinterher, trotz aller Beschwerden. Durch die Gemeinschaft habe ich Heimat gefunden. Ich habe das hier gewählt, um von Jesus und von Gott zu hören, obwohl ich Probleme habe, wenn sehr viele Menschen in einem Raum sind.
Volker: Leute, die mit Gott leben wollen, sind anscheinend so, dass sie andere Leute um sich rum haben wollen. Man muss gar nicht glauben an Jesus, kann einfach nur dabei sein und sich selbst ein paar Gedanken machen. Dann wird alles frei, im Herz und Geist auch. Das ist wie positives Denken.
Angela: Ich bin eher zufällig zu euch gekommen. Und es hat mir gefallen, wie die Leute untereinander waren. Ich habe früher bei der Christenlehre mitgemacht, bis ich das plötzlich nicht mehr durfte. Am Anfang war es ein bisschen komisch, von mir selbst zu sprechen. Aber ich hab es gemacht. Wenn ich nach den Treffen nach Hause gehe, kommt die Einsamkeit so langsam – am nächsten Tag – wieder. Dann denke ich an die Gruppe und dann ist da diese Hoffnung, ich seh´ sie ja bald wieder. Das baut auf und die Einsamkeit gerät ins Hintertreffen.
Vieles von dem, was in den Gesprächen erzählt wurde, entspricht unseren Beobachtungen, dass sich die Nachbarinnen und Nachbarn im senfkorn. durch das Eingebundensein in eine Gemeinschaft auf einen bemerkenswerten persönlichen Entwicklungsweg einlassen. Sie wachsen von einer Besucher- in eine Gastgeberrolle hinein. Sie erzählen von sich selbst, hören aber auch anderen zu. Sie beginnen mitzusingen, zu beten, sich mit uns Gedanken über biblische Geschichten zu machen. Wenn Einsamkeit zu sozialer Isolation führt und sich wiederum aus sozialer Isolation speist, wenn Sozialkompetenzen in dieser Abwärtsspirale verlernt werden, dann wirken gemeinschaftsstiftende geistliche Orte wie soziale Erfrischungsstationen wider die Einsamkeit. Wird so nicht auch die Sehnsucht geweckt nach dem Gott, dessen Nähe und Liebe jedes Dunkel erhellt und der so die Verbindung zu mir selber und mit anderen wieder herstellt? Wir loben Gott, dass es bei uns ganz danach aussieht. m