Vater mit Tochter auf dem Arm

Sehnsucht nach Nähe

Seelische Reifung durch Bindung an Jesus

Es gibt Erfahrungen im Leben, die alles verändern. Sie sind oft leise, manchmal kaum bewusst erlebt – und doch hinterlassen sie Spuren, tief in uns. Eine dieser prägenden Kräfte ist die Bindung: das Gefühl, bei einem anderen Menschen sicher zu sein, mit ihm verbunden zu sein, gesehen, gehört und verstanden zu werden. Wer das als Kind erlebt, den trägt ein starkes inneres Fundament durchs Leben. Wer es vermisst, spürt oft eine unsichtbare Leere – und sucht ein Leben lang nach dem, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: bedingungslose Annahme und Verbundenheit.


Warum Bindung so wichtig ist

Wenn Babys auf die Welt kommen, bringen sie ein tiefes Bedürfnis mit: Beziehung und Bindung. Noch bevor sie sprechen oder denken können, suchen sie Nähe, Blickkontakt, Berührung. All das ist nicht „nettes Beiwerk“ – es ist überlebenswichtig. Und mehr noch: Diese ersten Erfahrungen formen buchstäblich das Gehirn. Kinder, die verlässlich in ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden und ein liebevolles Eingehen der Eltern auf sie erleben, entwickeln stärkere Stressregulationssysteme, mehr Selbstvertrauen und eine bessere Fähigkeit, mit Herausforderungen umzugehen.
Der Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch sagt: Sicher gebundene Kinder sind kreativer, sozialer, weniger aggressiv und können besser lernen. Sie schließen eher Freundschaften, finden leichter Wege aus Konflikten und behalten auch in schwierigen Situationen eher die Nerven. Kurz: Sie starten mit einem inneren Plus auf dem Konto ins Leben.

Denn diese frühen Erfahrungen wirken weit über die Kindheit hinaus. Erwachsene mit sicheren Bindungserfahrungen zeichnen sich durch innere Stabilität, Zuversicht und eine grundsätzliche Lebensfreude aus. Sie empfinden Freude an zwischenmenschlicher Nähe, können auch schwierige oder schmerzhafte Erlebnisse gut verarbeiten und fühlen sich von anderen gesehen und wertgeschätzt. Die US-amerikanische Seelsorgerin Leanne Payne beschreibt zwei zentrale Aspekte dieser inneren Verfassung: den „sense of being“, also das Gefühl der Daseinsberechtigung, dass ich mich im Leben willkommen fühle; sowie den „sense of wellbeing“ – die Fähigkeit, sich selbst Wohlbefinden zuzugestehen und das Leben zu genießen.

Wenn das Fundament brüchig ist

Aber was ist mit denen, die das nicht erleben durften? Die frühe Kindheit ist eine besonders sensible Zeit. Wenn dort emotionale Nähe fehlt – etwa, weil Eltern überfordert, krank oder selbst verletzt und traumatisiert sind – prägt sich das tief ein. Man unterscheidet zwei Arten von Verletzungen: Das sogenannte B-Trauma („bad things“), also das, was aktiv verletzt – Missbrauch, Gewalt, Abwertung. Und das noch schwerer wiegende A-Trauma („absence of good things“), das emotionale Mangelerfahrungen und Vernachlässigung während der Kindheit beschreibt. Die auffälligen Formen erkennen wir gut: Eltern, die kein gutes Wort für ihre Kinder finden, die die Kinder weitgehend sich selbst überlassen, die wenig oder zumindest nur sehr unbeständig Liebe aufbringen können.

Sehr viel weiter verbreitet ist die stille Abwesenheit von Liebe und Bindung. Eltern, die zwar da sind, auch äußerlich das Kind gut versorgen, die aber innerlich nicht wirklich erreichbar sind. Ihr Herz kann nicht mit den Gefühlen des Kindes mitschwingen, weil sie vielleicht überhaupt nicht gelernt haben, Gefühle zuzulassen und ernst zu nehmen. In der eigenen Erziehung haben die Eltern vielleicht gelernt, dass sie „tapfer“ sein sollten, dass sie mit ihren Gefühlen keine Last werden und sie daher nicht zeigen sollten. Sie haben daher Teile ihres eigenen Herzens „weggesperrt“. Kinder spüren das. Um sich gut entwickeln zu können, brauchen Kinder, dass sich die Eltern ihnen von ganzem Herzen zuwenden, sie unterstützen, emotional begleiten und in schwierigen Situationen trösten. Die älteren Menschen in unserem Land konnten diese emotionale Fürsorge der Eltern wenig erleben, weil sie und ihre Eltern durch die Erfahrungen einer „schwarzen“ Pädagogik und die Traumatisierungen durch verheerende Weltkriege selber emotional verwundet und hungrig geblieben sind. Jüngere Menschen haben vielleicht durch eine pädagogisch bekanntermaßen unsinnige, aber politisch gewollte frühe Krippenerziehung innerlich ein instabiles Bindungsfundament.

Jüngste Studien zeigen nun, dass es einen deutlichen Zusammenhang gibt zwischen der Bindungsstabilität der Kinder und der Häufigkeit der Nutzung sozialer Medien durch ihre Eltern. Man kann nicht gleichzeitig auf ein Smartphone schauen und emotional von ganzem Herzen für ein Kind präsent sein.

Eine solche innere Wunde durch nicht ausreichende Bindung ist uns im Allgemeinen in ihrer Schwere tatsächlich nicht bewusst. Wir halten das für normal, wie die Eltern sich verhalten haben. So war es einfach. Es war okay.

Viele Menschen haben also diesen Mangel an Bindung erlebt – und wundern sich heute, warum sie sich oft leer, angespannt oder innerlich unverbunden und einsam fühlen. Warum Nähe Angst macht oder Beziehungen immer wieder scheitern. Warum sie funktionieren, leisten, kämpfen – aber sich selbst dabei kaum spüren.

Die Therapeutin Dami Charf spricht in diesem Zusammenhang von einer „versteckten Epidemie“. Rund 95 % der Menschen, so ihre Einschätzung, tragen solche brüchigen Bindungsmuster in sich – oft unbemerkt. Nach außen scheint alles normal. Doch im Inneren fehlt etwas Entscheidendes: emotionale Sicherheit.

Unser Herz hört nie auf zu suchen

Diese frühen Verletzungen zeigen sich später im Erwachsenenleben auf viele Arten. Manche Menschen fühlen sich schnell abgelehnt, reagieren empfindlich auf Stress und kommen kaum zur Ruhe. Die Welt wird als bedrohlich erlebt, Schlafstörungen, innere Unruhe oder plötzliche Panik in Trennungssituationen sind keine Seltenheit.

Andere spüren kaum noch, was sie eigentlich fühlen – außer vielleicht eine tiefe, unerklärliche Traurigkeit oder das Gefühl, nicht gut genug zu sein. „Denn wenn ich gut genug gewesen wäre, wären die Eltern für mich da gewesen“ ist die unbewusste Schlussfolgerung, zu der kleine Kinder oft gelangen, wenn sie nicht ausreichend Bindung zu den Eltern aufbauen können. Die Folge ist eine Grund-Scham im Leben als Erwachsene. Und oft ein Gefühl, nicht richtig dazuzugehören zur Welt der anderen.

Auch Beziehungen werden oft von diesen alten Mustern überschattet. Ein inneres Misstrauen begleitet die Nähe: „Magst du mich wirklich? Wann lässt du mich fallen?“ Manche ziehen sich lieber zurück, andere klammern – und viele schwanken irgendwo dazwischen. Nähe wird gleichzeitig ersehnt und gefürchtet. Und nicht selten landen wir in einem Teufelskreis: Wir verlangen von anderen die Liebe, die eigentlich früher hätte kommen müssen – und sind enttäuscht, wenn die heutigen Beziehungen unsere tiefste Sehnsucht nicht stillen können.

Und Gott?

Diese frühen Bindungserfahrungen beeinflussen auch unsere Gottesbeziehung. Wenn wir gelernt haben, dass Nähe gefährlich ist oder Liebe Bedingungen hat, übertragen wir das – ganz unbewusst – auf Gott. Dann wirkt er fern, unnahbar oder sogar streng. Vielleicht glauben wir, nicht geistlich genug zu sein, um seine Nähe zu verdienen. Oder wir fürchten, dass er genau das von uns will, was uns überfordert. Selbst wenn wir uns nach ihm sehnen – es fühlt sich an, als wäre da eine unsichtbare Wand.

Neue Bindung – neue Hoffnung

Doch es gibt Hoffnung. In der geistlichen Begleitung und Seelsorge berichten viele Menschen, dass sie durch neue Erfahrungen mit Jesus innere Heilung erleben. Nicht durch kluge Erklärungen oder geistliche Anstrengung – sondern durch Begegnung. Durch das einfache Sein in seiner Gegenwart.

In der „Intimität mit Gott“, wie manche diesen Raum nennen, geschieht etwas Unerwartetes: Menschen spüren sich selbst – und sie spüren, dass da jemand ist, der sie sieht, hört und versteht. Auch in ihrer Wut, ihrer Scham, ihrer Angst. Gerade dort. Jesus begegnet uns nicht erst, wenn wir „in Ordnung“ sind – sondern mitten im Chaos. Seine Nähe ist kein Lohn, sondern ein Geschenk, das er jedem machen möchte. Diese neue Bindungserfahrung kann alte Erfahrungen überschreiben. Emotionale Muster können sich verändern, wenn sie in sicheren Beziehungen neu erlebt werden. Bis zu einem gewissen Maß geschieht das auch im Gegenüber zu verlässlichen, nahen Menschen, die uns als Erwachsenen Möglichkeiten geben, unser Bindungssystem nachreifen zu lassen. Tiefer aber noch geht (weil sie vollkommen verlässlich ist) eine emotionale Bindung an Jesus. Wer mit Jesus regelmäßig Zeit verbringt – nicht nur betet oder Bibel liest, sondern einfach bei ihm ist – kann tief erleben, wie sich etwas wandelt. Es geht nicht mehr nur darum, Antworten zu bekommen oder richtig zu handeln. Es geht ums Dasein. Ums Geliebtsein. Um Verbundenheit.

Aus Wunden wird Reife

Der Weg durch alte Verletzungen ist nicht immer einfach. Aber er ist möglich – und er lohnt sich. Oft ist es ratsam, sich Hilfe durch einen Seelsorger oder Therapeuten zu suchen, der oder die mir hilft, in die Herz-zu-Herz-Begegnung mit Jesus zu kommen. In der liebevollen Bindung an Jesus können selbst die tiefsten Schmerzen heilen. Sie machen uns nicht härter, sondern weicher. Nicht misstrauischer, sondern mitfühlender. Und sie schenken uns eine neue Art von Reife: die Fähigkeit, andere zu lieben, ohne uns selbst zu verlieren. Die Stärke, Nähe zuzulassen. Und den Mut, uns selbst anzunehmen – genau so, wie wir sind.